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Matthias Lilienthal: Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter
Mit der Spielzeit 2025/26 soll Matthias Lilienthal die Intendanz der Volksbühne übernehmen
Die Geschichte der Berliner Volksbühne ist eine Geschichte des Krachs, der Skandale und Intrigen. Nicht auf der Bühne, wohlgemerkt. Und nein, nicht erst seit der Vertreibung von Frank Castorf vom Intendantenstuhl im Jahr 2017. Bereits seit der Errichtung des Hauses am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz vor 110 Jahren ist das Theater häufig zum Spielball der Politik geworden, wechselten hier radikale Kunst und künstlerischer Opportunismus einander ab, folgte phasenweise ein Leiter auf den nächsten.
Die lange ausstehende Entscheidung über die Nachfolge des plötzlich verstorbenen Intendanten René Pollesch vor einem Jahr und die Querelen um die Intendanzfindung bereits in den Jahren zuvor haben das interessierte Publikum mürbe gemacht. Hinzu kommt, dass keiner dem sparwütigen Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) so recht zutrauen wollte, die oder den Richtigen zu verpflichten. Das Theater wirkt ihm fremd.
Nun hat immerhin die Warterei ein Ende. Am Donnerstag hatte die Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt gleich für den Folgetag zur Verkündung der Entscheidung geladen. »Die Kurzfristigkeit der Einladung«, so war dem Schreiben zu entnehmen, »liegt in der Natur der Sache«. Aber jetzt wissen wir alle mehr: Matthias Lilienthal, in Berlin gewiss kein Unbekannter, soll die Geschicke am Luxemburg-Platz lenken.
Chialo hatte zuvor ein Beratergremium eingesetzt, das aus dem Theatermacher und Festivalleiter Milo Rau, dem Regisseur und Intendanten Kay Voges, der Intendantin und Dramaturgin (mit Volksbühnenvergangenheit) Beate Heine sowie der Leiterin des Jugendclubs der Volksbühne Vanessa Unzalu Troya bestand und das sich einstimmig zur Personalie Lilienthal bekannt hat. Der Kultursenator sprach von einer »guten Nachricht für das Haus, für die Stadt und für alle Theaterfreunde in ganz Deutschland und europaweit«. Vielleicht etwas zu hoch gegriffen?
Lilienthal, der gebürtig aus Westberlin stammt, hat nach ersten Theatererfahrungen in Wien und Basel in den 90er Jahren als Dramaturg an der Volksbühne unter Frank Castorf angeheuert. Anfang der Nullerjahre war er Intendant am HAU Berlin geworden, ehe er in selber Funktion an die Münchner Kammerspiele wechselte. Wenn er seinen neuen Posten mit der Spielzeit 2026/27 antreten wird, wird er 66 Jahre alt sein.
Die Frage nach der Zukunft der Volksbühne ist auch deshalb stark aufgeladen, weil mit diesem Haus ein politisches Erbe verbunden ist, weil es als Symbol einer ostdeutschen Widerständigkeit gilt und weil sich hier auch künstlerische Traditionen – Piscator! Besson! Castorf! – eingeschrieben haben. Lilienthals künstlerische Verbindungen reichen eher in die Performance-Kunst. Er gilt als Fürsprecher der freien Szene. Und er war auch einer der wenigen, die den Ruf als Unterstützer Chris Dercons hatten, dem unwürdigen Nachfolger Frank Castorfs, der nach kaum einer halben Spielzeit wieder die Segel strich.
Für die Volksbühne hat Lilienthal als eine Art erweiterte künstlerische Leitung ein »Artistic Board« angekündigt, das aus den Choreografinnen Florentina Holzinger (die bereits kontinuierlich am Haus arbeitet) und Marlene Monteiro Freitas bestehen wird. Holzinger ließ wissen, dass sie sich zunächst auch um den Posten als Intendantin beworben, die Bewerbung dann aber zurückgezogen hatte. Sie wolle das »derzeit« nicht machen. So offenherzig und gleichzeitig schnöde äußert man sich auch nirgendwo sonst als im Berliner Kulturbetrieb.
Der Tanz wird also zur festen Größe am Haus. Lilienthal spricht davon, dass er ein Drittel des Programms ausmachen werde. Außerdem stellt er eine Zusammenarbeit mit dem polnischen Regisseur Łukasz Twarkowski in Aussicht. Diesem habe er vorgeschlagen, wie seinerzeit Castorf in unzähligen Inszenierungen, Dostojewski auf die Bühne zu bringen. Twarkowski habe Vorbehalte geäußert, sei Dostojewski doch der Wegbereiter Putins. Schließlich habe man sich darauf geeinigt, sich gerade mit diesem Umstand künstlerisch auseinanderzusetzen. Da ahnt man bereits, dass im schlimmsten Fall mit viel politischem Geraune und literarischem Halbwissen zu rechnen sein wird.
Auch den aus Solothurn stammenden Stefan Kaegi, bekannt als Teil des Theaterkollektivs Rimini Protokoll, möchte Lilienthal am Haus verpflichten. Und weil der am Schauspielhaus Zürich in diesem Jahr ein Kinderparlament errichten will und der künftige Intendant um die Befindlichkeiten in der Hauptstadt weiß und aus Schweizer wie Westberliner Perspektive wohl Ostdeutsche auch nur große Kinder sind, soll es an der Volksbühne unter dessen künstlerischer Leitung ein Ostdeutschen-Parlament geben.
Das Bemühen des designierten Bühnenchefs ist zu spüren: Neue Künstler sollen her, die hier bereits bekannten sollen aber bleiben. Der Tanz soll seinen Platz finden, aber das Schauspiel zentral nach wie vor zentral sein. Neue Wege sollen beschritten werden, aber bereits eingeschlagene Pfade – wie jener zu Dostojewski – sollen nicht aufgegeben werden. Internationale Namen sollen auf den Spielplan, und pflichtbewusst wird dann vielleicht auch Ostdeutschland abgehandelt. Um die Volksbühne, so viel ist klar, wird jedenfalls auch künftig gestritten.
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