Mehr Arbeiter ins Parlament: »Wir haben zu lange zugesehen«

Arbeiter wollen für Die Linke ins Parlament – und überwinden dabei auch Hürden

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 10 Min.
Eine Kundgebung der IG Metall – der hier formulierte Anspruch ist in der Praxis nicht immer leicht umzusetzen.
Eine Kundgebung der IG Metall – der hier formulierte Anspruch ist in der Praxis nicht immer leicht umzusetzen.

Wenn man mit Cem Ince, Elektroniker bei Volkswagen, über Arbeiter*innen im Politikbetrieb spricht, kommt ihm eine Anekdote in Erinnerung: Ein Taxifahrer habe ihn jüngst gefragt, ob er die Linkspartei unterstütze. Er antwortete daraufhin, dass er sie nicht nur unterstütze, sondern sogar für sie bei der anstehenden Bundestagswahl antrete: als Direktkandidat für den Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel-Vorharz und auf Platz 2 der niedersächsischen Landesliste. Die Reaktion des Taxifahrers: »So etwas könnte ich nicht« – eine Antwort, die Ince wütend macht. »Man hat es geschafft, dass sich viele Arbeiter*innen parlamentarische Arbeit nicht zutrauen«, sagt der 31-Jährige aus Salzgitter.

Ince trifft einen wunden Punkt des Politikbetriebs. Denn so unklar vieles bei der Zusammensetzung des neuen Bundestages noch ist – sicher ist seine elitäre Prägung. »Im Deutschen Bundestag haben aktuell nur 5 Prozent der Abgeordneten längere Zeit in einem nicht akademischen Beruf gearbeitet«, sagt die Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer. Dies stehe im Kontrast zu den 40 Prozent der Arbeiter*innen in Deutschland. Arbeiter*innen definiert Elsässer als Menschen, die länger als fünf Jahre in Berufen gearbeitet haben, die keinen akademischen Abschluss erfordern. Das umfasse ganz verschiedene Berufe wie Krankenpfleger*innen, Erzieher*innen, Beschäftigte in der Stahlindustrie oder Büroangestellte.

Insgesamt liege im Bundestag der Akademiker*innenanteil heute bei 85 Prozent. Laut Elsässer steige dort auch stetig der Anteil von Berufspolitiker*innen, die so gut wie nie in politikfernen Berufen tätig waren. So sei der Anteil solcher Berufspolitiker*innen im Bundestag seit 1969 von 18 auf 36 Prozent gewachsen, während der Anteil von Arbeiter*innen von 16 auf 5 Prozent fiel.

Bei den Parteien gebe es dabei aber gewisse Unterschiede. Der Anteil von Arbeiter*innen bei der SPD-Bundestagsfraktion sei laut Elsässer von rund 22 Prozent in den 70er Jahren auf 11 Prozent im Jahr 2021 gesunken. Zugleich gebe es praktisch keine Unions-Abgeordneten mehr mit Arbeiter*innen-Hintergrund, auch keine grünen. Die wenigen verbliebenen Arbeiter*innen seien heute vor allem in der SPD und bei der Linken. Die Entwicklung zur Professionalisierung finde letztlich aber auch in allen Mitte-links-Parteien statt – dies verschärfe den Trend, diese auch immer mehr als abgekoppelt vom Leben der Mehrheit wahrzunehmen.

Massive Entfremdungsprozesse zwischen Arbeiter*innen und dem politischen Betrieb bestätigen zugleich verschiedene Studien und auch die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sowie der Europawahl im vergangenen Jahr. »Was wir beobachten, ist eine Legitimationskrise des Parteiensystems, die ihr soziales Epizentrum in der Arbeiter*innenklasse hat«, heißt es in einer aktuellen Studie der Soziologen Linus Westheuser und Thomas Lux für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Noch deutlich mehr als im Rest der Gesellschaft erodiere dort der Rückhalt der etablierten Parteien – »inklusive der Parteien links der Mitte«. Vor allem der AfD gelinge es, diese Lücke zu füllen. »Das Klassenbewusstsein von Arbeiter*innen wird von rechts außen gekapert«, fassen die Soziologen zusammen.

Warum das gelingt, ist eine anhaltende Diskussion. »Die Last eines körperlich anstrengenden Alltags und der Protest gegen die Geringschätzung durch eine Gesellschaft, die sich von der Arbeiter*innenklasse abgewandt hat, münden in eine Konkurrenz nach unten«, erklärt der Forscher Westheuser an anderer Stelle. Diese Stimmung sei dann ein »gefundenes Fressen« für jene, die aus der Entsolidarisierung Profit schlagen, vom Springer-Verlag bis zur AfD. »Rechte Akteure greifen dabei den ganz und gar nicht irrationalen Impuls auf, angesichts von Krise und Knappheit zuerst das eigene Kuchenstück zu verteidigen.« Das Versprechen: »eine symbolische Aufwertung durch Nach-unten-Treten«.

Wie erfolgreich sie damit sind, hänge laut dem Soziologen wiederum aber auch mit vorhandenen linken Alternativen zusammen. Und damit, wie ernst man genommen wird. Politik erscheine für enttäuschte Arbeiter*innen unterschiedslos als Sphäre »der Oberen«, zu denen sämtliche Politiker*innen gezählt werden. Realer Ausschluss werde mit Selbstausschluss quittiert.

Herausforderung für linke Parteien

In den Mitte-links-Parteien ist man sich des Problems durchaus bewusst. Aus der SPD-Bundeszentrale heißt es gegenüber »nd« jedoch nur sehr allgemein: »Wir unterstützen unsere Mitglieder dabei, Verantwortung für öffentliche Ämter und Parteifunktionen zu übernehmen. Dabei ist uns wichtig, dass dies unabhängig vom beruflichen Umfeld und von der sozialen Herkunft möglich ist.« Für die Verankerung in Betrieben ist die »Arbeitsgemeinschaft für Arbeit« zuständig, die auch die SPD-Betriebsgruppen organisiert. Für Arbeiter*innen-Biografien im Bundestag stehen hier etwa der gelernte Industriemechaniker Stefan Schwartze, die Altenpflegerin Claudia Moll oder der Automechaniker Josip Juratovic.

Gerade auch für die Linkspartei stellen die Entwicklungen eine Herausforderung dar – hat sie doch den besonderen Anspruch, die politischen Interessen von Arbeiter*innen zu vertreten. Cem Ince betont, wie wichtig Kandidaturen von Beschäftigten sind. »Arbeiter*innen wissen, was in den Betrieben vorgeht, was die Kolleg*innen brauchen und wie man Gesetze auslegt, die die Arbeitswelt betreffen«, sagt der VW-Mitarbeiter. Er selbst habe mit seinen Kolleg*innen bei Tarifauseinandersetzungen vieles durchgemacht. »Das wird von ihnen anerkannt.«

Ince kann auch bestätigen, dass die Beschäftigten »von der herrschenden Politik total abgefuckt sind«. »Es ist hier wichtig, dass wir in die Betriebe reingehen, uns an Tarifauseinandersetzungen beteiligen und unsere gewerkschaftliche Identität klar nach draußen tragen.« Auch können Themenfelder ganz konkret zusammen gedacht werden: »Die Industriestandorte bei uns in der Region sind durch politische Fehlentscheidungen gefährdet und werden nun von der Rüstungsindustrie umgarnt«, sagt Ince. Der konsequente Einsatz für Friedenspolitik und der Einsatz für gute, nachhaltige Arbeitsplätze gehören für ihn zusammen.

Eine Kandidatur als Arbeiter sei jedoch nicht immer einfach: »Ich arbeite fünf Tage die Woche und mache nebenbei noch einen Vollzeitwahlkampf. Das bedeutet wenig Zeit für Freund*innen, Familie und Hobbys«, so der 31-Jährige. Für ihn sei das aber nichts Neues: Jahrelang war Ince betrieblicher Vertreter der jungen VW-Beschäftigten, heute gehört er zur IG-Metall-Vertrauenskörperleitung bei VW. Zudem ist er Vorsitzender des Ortsmigrantenausschusses der lokalen IG Metall und Kreisvorsitzender der Linken. »Jetzt ist die politische Arbeit eben auch der Wahlkampf. Das geht aber nur, wenn man Spaß daran hat und ein politisches Ziel dabei verfolgt.«

Wichtig ist ebenso die Unterstützung. »In Salzgitter sind wir in der Linken sehr arbeiter*innenorientiert, führende Gewerkschafter*innen sind bei uns organisiert«, sagt Ince. Sie haben ihn zur Kandidatur ermutigt und auch unterstützt. »Das zeigt, wie es überall laufen könnte.« In der Gesamtpartei sei da noch Luft nach oben, so der VW-Arbeiter. Parteitage, die Freitag 14 Uhr beginnen, seien beispielsweise eine Herausforderung für Beschäftigte. »Ich glaube, insgesamt hat man da aber mittlerweile aus früheren Fehlern gelernt.«

Eine weitere Kandidatin der Arbeiter*innenklasse ist Stella Merendino. Die Gesundheits- und Krankenpflegerin arbeitet in einer Notaufnahme und kandidiert bei der Bundestagswahl für die Berliner Linke als Direktkandidatin für den Wahlkreis Mitte sowie auf Listenplatz 5 der Landesliste. »Wer nie erlebt hat, wie es ist, in unterbesetzten Diensten zu arbeiten, unter Zeitdruck Patient*innen zu versorgen oder sich Gedanken über die nächste Stromrechnung machen zu müssen, kann schlicht nicht nachvollziehen, was im Alltag der Menschen wirklich zählt«, sagt sie dem »nd«. Politik müsse von Menschen gemacht werden, die das Leben der Mehrheit auch kennen. Mehr Arbeiter*innen im Parlament bedeuten für sie »weniger Blabla« und mehr Politik, die anpackt. »Wir haben schon zu lange zugesehen, wie andere über uns entscheiden.«

Die Herausforderung, Politik und Arbeitsleben zu kombinieren, sei dennoch real. Neben der Arbeit in der Notaufnahme studiert Merendino noch, aktuell ist sie im unbezahlten Sonderurlaub, um überhaupt kandidieren zu können. »Das ist keine leichte Entscheidung – es bedeutet finanzielle Einbußen, Stress und jede Menge Improvisation.« Gerade wenn man aus einem Arbeiter*innen-Haushalt komme, sei es schwer, sich freizunehmen oder einen Wahlkampf zu bezahlen. »Das zeigt schon, wie ungleich die Spielregeln sind. Aber genau deshalb mache ich es: Weil sich das ändern muss.«

Merendino betont, dass es ihr ohne Die Linke nicht möglich gewesen wäre, diesen Schritt zu gehen. »Hier fühle ich mich mit meinen Erfahrungen als Arbeiter*innenkind mit Migrationshintergrund und Krankenpflegerin willkommen und ernst genommen«, sagt sie. Zugleich fehle es noch an Strukturen, die Arbeiter*innen bei organisatorischen oder finanziellen Fragen entlasten. Die Linke habe aber auch den Raum, diese Debatten zu führen – »und sie hat das Herz dafür«.

Auch ein Hafenarbeiter aus Hamburg tritt für Die Linke an. Der 32-jährige Kay Jäger kandidiert auf Platz 12 der Landesliste und als Direktkandidat im Wahlkreis Billstedt-Wilhelmsburg-Finkenwerder zur Bürgerschaftswahl am 2. März. Jäger arbeitet seit seinem 16. Lebensjahr im Hafen. Bereits sein Vater war dort tätig, seine Mutter arbeitete als Floristin und Haushaltshilfe. Die Herausforderungen, die das mit sich bringt, sind ihm bekannt: »Politische Arbeit lebt von regelmäßigen Terminen. Mein Schichtplan und meine Lebensrealität sind an vielen Stellen kaum vereinbar«, erzählt er. »An bestimmten Terminen teilzunehmen, war für mich schon immer mit deutlich mehr Organisationsaufwand verbunden als für viele andere Leute in meinem privaten und politischen Umfeld.«

Jäger betont, dass er politisch speziell um die Menschen kämpfen will, »die sich durch die üblichen Parteien nicht mehr vertreten fühlen, die keinen klaren politischen Kompass mehr haben und die nicht mehr an einen positiven Wandel oder ans Gewinnen glauben«. Arbeiter*innen zu erreichen, sei aber auch bei ihm am Hafen ein langfristiger Prozess: »Das alles geht nicht einfach mit ein paar Abgeordneten, die mal Schicht gearbeitet haben.«

Die aktuellen Entwicklungen in der Linken sieht Jäger positiv: »Ich sehe, dass in unserer Partei vieles in die richtige Richtung angeschoben wird.« Viele hätten die Notwendigkeit von Arbeiter*innen-Kandidaturen erkannt und würden dementsprechend »ihr Bestes geben, um sie möglich zu machen«. Strukturell könnte es aber noch Verbesserungen geben.

Jäger lässt sich momentan häufig unbezahlt von der Arbeit für den Wahlkampf freistellen. Er könne sich das leisten, »ein paar Monate deutlich weniger« zu verdienen. »Das geht nicht allen so, ich denke dabei zum Beispiel an eine Kassiererin, die zwei Kinder zu ernähren hat«, sagt er. Wie sich das ändern lässt, dafür hat er eine konkrete Idee: »Ich wünsche mir, dass wir in der Partei mittelfristig Strukturen schaffen, um auch für Leute wie sie Kandidaturen zu ermöglichen: eine Art Wahlkampffonds für Menschen aus dem Niedriglohnsektor.«

Konkrete Ideen gibt es derweil auch an der Parteispitze. »Wir sind sehr stolz, dass auf unseren Landeslisten Krankenschwestern, VW-Arbeiter*innen, Lehrkräfte und Sozialarbeiter*innen kandidieren. Das zeigt, dass Die Linke in der Welt verankert ist«, sagt die Linke-Ko-Vorsitzende Ines Schwerdtner gegenüber »nd«. Dennoch könnten es »noch viel mehr und unterschiedliche Berufsgruppen« sein. »Die Partei der Arbeit in Belgien zum Beispiel löst dieses Problem durch Quoten für Arbeiter*innen, was künftig zu diskutieren wäre.« Auch die Verankerung in den Betrieben zu stärken, sieht sie als eine Aufgabe der kommenden Jahre. »Sie erfordert etwa zehnmal mehr Engagement als in einer Nachbarschaft.«

Irgendwo muss man anfangen. VW-Arbeiter Cem Ince ermutigte zumindest bei seinem Gespräch mit dem skeptischen Taxifahrer diesen, auch selbst aktiv zu werden: »Wir brauchen Leute wie dich, die sich engagieren und kandidieren.«

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