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Drei Minuten mit Stalin
Ismail Kadare schildert in »Der Anruf« ein Telefonat zwischen Josef Stalin und dem Schrifsteller Boris Pasternak
Am 13. Juni 1934 klingelt in der Wolchonka Straße 14 in Moskau das Telefon. Boris Pasternak, der hier mit seiner Frau in einer Gemeinschaftswohnung, einer sogenannten Kommunalka, in zwei von fünf Zimmern lebt, geht in den Flur und nimmt den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Alexander Poskrjobyschew, der Sekretär Stalins. »Der Genosse Stalin wird jetzt zu ihnen sprechen«, sagt dieser nur kurz und verbindet mit dem Diktator. Oder sagte er etwas anderes? Pasternak selbst hat zwar später Freunden von dem Gespräch erzählt, aber keinerlei schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen. Alles, was man heute über das Telefongespräch zwischen Dichter und Diktator weiß, stammt von Dritten.
Immerhin ist sicher, dass sie über Ossip Mandelstam sprachen, der zuvor, am 16. Mai, verhaftet worden war. In einem erhalten gebliebenen Brief, den Pasternak im November 1935 an Stalin richtete, um sich für Anna Achmatowas verhafteten Mann und ihren Sohn einzusetzen, schrieb er: »Sie haben mir einmal vorgeworfen, dass mir das Schicksal eines Genossen gleichgültig sei.« Mit dem »Genossen« konnte nur Ossip Mandelstam und das Telefongespräch gemeint sein. Nach mehreren der in Umlauf gebrachten Versionen soll Stalin damals Pasternak die Frage gestellt haben, was er von dem Dichter halte. Sie seien verschieden, habe Pasternak geantwortet, aber er respektiere ihn. »Wir Bolschewisten haben unsere Freunde besser verteidigt«, soll Stalin daraufhin gesagt und gleich danach aufgelegt haben.
Kadare ließen das Erlebnis in Moskau und die Frage, wie das Telefongespräch im Juni 1934 wirklich abgelaufen ist, nicht mehr los.
Vielleicht wäre dieses Gespräch zwischen Diktator und Dichter eine Fußnote der russischen Literaturgeschichte geblieben, wenn es 1958, nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an den Dichter, nicht wieder hervorgeholt worden wäre. Die sowjetische Propaganda wollte ihn, der mit seinem 1957 im Westen erschienenen Roman »Doktor Schiwago« endgültig in Ungnade gefallenen war, mit seinem angeblich mangelnden Einsatz für Mandelstam diskreditieren und dazu bringen, den Nobelpreis abzulehnen. Dazu wurden propagandistisch alle Hebel in Bewegung gesetzt. Der Vorsitzende der KPdSU-Jugendorganisation Komsomol, Wladimir Semitschastny, sagte damals über Pasternak: »Ein Schwein besudelt niemals den Ort, wo es frisst und schläft. Wenn man daher Pasternak mit einem Schwein vergleicht, so ist festzustellen, dass ein Schwein nicht getan hätte, was er tat.«
Auch auf einer Studentenversammlung am berühmten Gorki-Literaturinstitut in Moskau wurde Pasternak öffentlich geschmäht. In dem Hörsaal, in dem eine Versammlung zur Verleihung des Nobelpreises an Pasternak stattfand, saß damals auch ein junger albanischer Literaturstudent: der später berühmt gewordene Ismail Kadare. Außer ihm, so schreibt er in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch »Der Anruf. Untersuchungen«, habe nur eine Studentin geschwiegen und nicht in die Sprechchöre eingestimmt, die Pasternak zum Verzicht auf den Preis aufforderten. Es war, wie er später herausfand, die Tochter von Olga Iwinskaja, Pasternaks Geliebter.
Kadare ließen das Erlebnis in Moskau und die Frage, wie das Telefongespräch im Juni 1934 wirklich abgelaufen ist, nicht mehr los. In seinem Buch listet der im letzten Jahr verstorbene albanische Autor noch einmal die seiner Meinung nach wichtigsten zwölf in Umlauf gebrachten Versionen auf. In einer 13. Version »in Form eines Epilogs« zieht er eigene Schlüsse aus dem dreiminütigen Telefonat von Pasternak und Stalin. Wobei er bereits nach der achten Version schreibt: »Seit Jahren befasste sich eine Schar von Experten mit den drei Minuten des inzwischen weit zurückliegenden Sommers 1934, ohne dass etwas dabei herauskam.« Trotzdem diskutiert Kadare danach noch vier weitere Versionen – und am Schluss seine eigene.
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Der Mandelstam-Forscher Pavel Neher geht in seinem Buch »Ossip Mandelstams letzte Jahre. Verfemung, Verbannung und Tod eines Dichters 1932–38« erst gar nicht auf den genauen Wortlaut des Gesprächs ein, sondern teilt die in Umlauf gebrachten Versionen in zwei Gruppen ein: diejenigen, die Pasternak negativ darstellen, und jene, die ihn in einem eher positiven Licht sehen. Neher kommt zu dem Schluss, dass die Frage, ob Pasternak Mandelstam im Stich gelassen hat oder nicht, für seine Begnadigung durch Stalin keine Rolle spielte. Wichtiger sei die Frage, warum der Diktator Pasternak überhaupt angerufen hat, obwohl er bereits vorher beschlossen hatte, die Verbannung des Dichters zu lockern.
Stalin konnte so, schreibt Neher, als der Gütige erscheinen im Gegensatz zu seinem angeblichen Freund Pasternak. Er konnte sich als Gott inszenieren, der Mandelstam aus der Zone des Todes ins Leben zurückgeholt hat. Er wusste, dass sich das Telefonat sehr schnell herumsprechen würde. Und die dabei entstandenen Gerüchte konnte das sowjetische Regime dann noch nach Stalins Tod 1953 zur Disziplinierung von Pasternak einsetzen.
Im Grunde hat das Telefongespräch zwischen Dichter und Diktator paradigmatischen Charakter. Es ist beispielhaft für das Verhältnis zwischen absolutem Herrscher und Künstler. Das ist auch der Grund, warum Ismail Kadare sich so sehr dafür interessiert hat. Als Autor war er in Albanien, das bis in die 90er Jahre stalinistisch regiert wurde, in einer ähnlichen Situation wie Pasternak damals in der Sowjetunion. Auch er bekam einen Anruf vom Diktator seines Landes, Enter Hoxha. Allerdings wollte der dem noch jungen Kadare nur zu einem Gedicht gratulieren, das er in der Zeitung gelesen und das ihm gefallen hatte.
Doch das Gespräch hätte, so fantasiert Kadare damals ängstlich, auch ganz anders verlaufen können, denn Enver Hoxha stand in seiner Brutalität Stalin in nichts nach. Gleichzeitig wurde Kadare nach dem Ende des stalinistischen Regimes in Albanien von einigen eine zu große Nähe zu Enver Hoxha nachgesagt. Das hat ihn verständlicherweise beschäftigt. »Der Anruf« versucht zu zeigen, dass man nicht zu schnell den Stab über jemanden brechen sollte, dessen Aussagen und Taten nur gerüchteweise bekannt sind.
Über weite Strecken überzeugt das. Der Leser von »Der Anruf« erfährt von den albanischen Zuständen unter Hoxha, zum Beispiel über Kadares Kampf um die Veröffentlichung von »Die Dämmerung der Steppengötter«, einem Roman, in dem es um seine Zeit als Student am Gorki-Institut geht.
Was den Untertitel von »Der Anruf« angeht – »Untersuchungen« –, darf man allerdings nicht zu viel erwarten. Eine nüchterne Analyse von Umständen, Inhalt und Funktion des Telefongesprächs zwischen Stalin und Pasternak findet man eher in Pavel Nehers Buch. Wobei Kadares Untersuchung ja auch eine literarische Auseinandersetzung ist, was naturgemäß zu Ungenauigkeiten führt. So gibt es beispielsweise zu dem Telefongespräch zwischen Stalin und Pasternak durchaus mehr Verifizierbares, als Kadare am Ende, in seinem kurzen Epilog, den Leser glauben lässt.
Aber er hat recht, wenn er schreibt, dass alles, was über die belegbaren Fakten hinausgeht, »in die Zone des Todes« führt. In dieser Zone, in der die Angst allgegenwärtig ist, sprießen die Gerüchte. Und Gerüchte sind neben der unmittelbaren Repression für einen Diktator bekanntermaßen ein beliebtes Mittel zur Herrschaft.
An einigen Stellen in »Der Anruf« fehlt Kadare die gebotene Distanz. In einzelnen Formulierungen wird seine Abneigung insbesondere gegen Frauen der damaligen russischen Literaturszene deutlich. Anna Achmatowa tituliert er abwertend als »die Diva«; an anderer Stelle ist sie nur die »Schriftstellerin«, obwohl sie fast nur Gedichte geschrieben hat.
Auch Sinaida Pasternak, die Frau von Boris Pasternak, bekommt ihr Fett weg. Angeblich soll sie »sehr sowjetisch« gewesen sein, was Kadare Gerüchten entnimmt, deren Wahrheitsgehalt er bei ihrem Ehemann infrage stellt. Aber wenn man darüber hinweglesen kann und wenn man keine sachliche, wissenschaftliche Analyse erwartet, ist »Der Anruf« ein lesenswertes Buch.
Ismail Kadare: Der Anruf. Untersuchungen. S. Fischer, 176 S., geb., 24 €.
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