Union Island: Noch immer gezeichnet vom Hurrikan Beryl

Das Leid und die Zerstörungen durch den Hurrikan Beryl Anfang Juli 2024 sind auf Union Island noch allgegenwärtig

  • Tom Mustroph, Union Island
  • Lesedauer: 8 Min.
Clifton, drei Tage nach der Katastrophe: In Scharen verlassen die Bewohner von Union Island am 4. Juli die Insel. Viele sind auch nach einem halben Jahr nicht zurückgekehrt und leben in Notunterkünften in St. Vincent.
Clifton, drei Tage nach der Katastrophe: In Scharen verlassen die Bewohner von Union Island am 4. Juli die Insel. Viele sind auch nach einem halben Jahr nicht zurückgekehrt und leben in Notunterkünften in St. Vincent.

Geschäftiges Treiben herrscht im Städtchen Clifton auf Union Island. Schwere Baufahrzeuge manövrieren auf den kleinen Straßen. Aus dem Fährschiff, das von der Hauptinsel St. Vincent nach Union Island gekommen ist, werden Baumaterialien entladen. Und auf dem kleinen Platz direkt vor dem Hafen bieten fliegende Händler Mangos, Bananen und Ananas an. »Die Händler sind wieder da. Das ist eine ganz wichtige Veränderung, weil es Lebensqualität zurückbringt«, ruft Idelia Ferdinand sichtlich erfreut. »Und zum Glück ist auch der ganze Schutt abtransportiert, der Monate lang am Hafen lag und allen aufs Gemüt drückte.« Ferdinand hat in Großbritannien Katastrophenmanagement und nachhaltige Entwicklung studiert. Jetzt ist die aus St. Vincent stammende Frau für die Notfallbehörde Nemo auf Union Island im Einsatz.

Sie wirkt souverän und tatkräftig in ihrer Aufgabe, stört sich auch nicht daran, dass sie ein Behelfsbüro am Hafen beziehen musste, weil das Hauptgebäude ihres Arbeitgebers noch nicht wieder hergestellt ist. Die Katastrophe hat sie immerhin nicht vor Ort erleben müssen. Ferdinand kam im September 2024 auf die Insel, zwei Monate nach dem verheerenden Hurrikan Beryl.

Drei Viertel der Häuser sind zerstört

Union Island hat der Sturm besonders hart getroffen. Der Katastrophenreport der UN-Organisation für Migration (IOM) listete fast 800 der insgesamt 1269 erfassten Gebäude auf Union Island als beschädigt oder komplett zerstört auf. Noch immer, mehr als ein halbes Jahr nach dem Ereignis, sieht man zahlreiche Gebäude ohne Dach. Ein zweistöckiger Hotelkomplex gleich neben dem Hafen ist komplett verwüstet. Auch das Schulgebäude von Clifton ist beschädigt; immerhin sind hier schon Holzbalken als Verstärkung eingezogen. Der Gemeindebibliothek allerdings wurde das Dach weggefegt.

Auch viele Wohngebäude machen einen desolaten Eindruck. In manchen wird immerhin fleißig gewerkelt. Zimmerleute sitzen inmitten frischer Holzbalken, die sie zu Dachstühlen verbauen. Ihre Akkuschrauber surren, die Männer grüßen fröhlich herunter. Hoch oben auf einem Hochspannungsmast hat sich ein Mitarbeiter der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft angeleint und repariert eine Leitung. »Noch haben nicht alle Häuser Strom. Aber zu 90 Prozent ist das Netz wieder hergestellt«, sagt der Handwerker, der von unten seinen Kollegen sichert. Er wirkt müde. »Es ist gut, wenn man eine Aufgabe hat in dieser Zeit.«

Was man auf den ersten Blick nicht sieht, sind die seelischen Ausnahmezustände. »Viele Menschen sind traumatisiert. Man merkt es unter anderem daran, wie unruhig sie werden, wenn jetzt wieder der Wind zunimmt oder es bei der Überfahrt mit der Fähre rauer wird«, hat Ferdinand beobachtet. In solchen Momenten fühlten sich viele nicht wohl. »Und dann beginnen sie auch, von ihren Erfahrungen während des Hurrikans zu sprechen.« Tatsächlich begegnen auch wir ängstlichen Menschen auf einer Überfahrt mit der Fähre. Als es stürmisch wird, fangen ein paar Frauen an zu singen, gegen die Angst, gegen die Wellen. Sie singen ein ganzes Repertoire von Kirchenliedern durch, bis wir den Hafen erreichen.

»Viele Menschen sind traumatisiert. Man merkt es unter anderem daran, wie unruhig sie werden, wenn jetzt wieder der Wind zunimmt oder es bei der Überfahrt mit der Fähre rauer wird.«

Idelia Ferdinand 
Katastrophenmanagerin bei Nemo

»Die psychischen Folgen zu behandeln, ist nicht leicht. Menschen müssen fachlich begleitet werden. Dazu fehlen uns aber die Ressourcen«, sagt Ferdinand. »Immerhin konnten wir das Unicef-Programm ›Back to Happiness‹ für die Kinder umsetzen. Personen werden geschult, um mit den Kindern zu reden, damit sie von ihren Erfahrungen berichten und aufgefangen werden.«

Viele andere bekommen keine Unterstützung und müssen sich selbst helfen – wie der Mann, der am Straßenrand Mangos verkauft. Er singt und rezitiert mit lauter Stimme. Zwei Bücher liegen auf seinem Schoß, eine Bibel und ein Buch mit dem Titel »Education«. »Wir brauchen Bildung, wir brauchen Wissen. Nur so können wir die Krisen bewältigen«, sagt er. Immer dann, wenn gerade kein Kunde komme, lese er laut, um sich seiner selbst zu vergewissern und um etwas dazuzulernen.

Andere Menschen sitzen mit leeren Gesichtern in den Trümmern ihrer Häuser. Wände sind abgetragen, sodass man von der Straße direkt auf das noch intakte Toilettenbecken und das Bett schauen kann, auf dem ein einzelner Mann kauert. Solche Menschen müssen warten, bis es weitergeht. »Wir haben in unserem Wiederaufbauprogramm Anträge von mehr als 400 Hausbesitzern auf Hilfe bei der Instandsetzung ihrer Häuser erhalten. Bisher konnten wir 100 von ihnen helfen«, beschreibt Ferdinand die Situation.

Angesichts der Geschäftigkeit auf den Straßen verwundert das geringe Tempo beim Wiederaufbau. Noch verwunderlicher ist, dass mehr als ein halbes Jahr nach dem Hurrikan weiterhin mehrere Dutzend Menschen in einem improvisierten Zeltlager in Hafennähe ausharren müssen.

Einem Bericht der IOM zufolge haben mehr als die Hälfte der 1300 Einwohner von Union Island ihre Insel verlassen und Unterschlupf bei Verwandten auf der Hauptinseln St. Vincent und in den Notunterkünften dort gefunden. Für den Klimaexperten und Umweltaktivisten Andrew Simmons ist das auch ein Grund, warum der Wiederaufbau auf Union Island so schleppend erfolgt. Er verweist auf die Wahlen in diesem Jahr. Bislang habe die Regierungspartei den Geschädigten lediglich etwas Geld zugesagt und sie in Notunterkünften auf St. Vincent untergebracht. Sie erhofft sich Dankbarkeit.

Karibikinsel – Union Island: Noch immer gezeichnet vom Hurrikan Beryl

Simmons verweist auf Carriacou, die Union Island nahe gelegene Insel, die allerdings nicht zu St. Vincent gehört, sondern zu der weiter südlich gelegenen Insel Grenada. »Da hatten die Menschen schon zwei Monate nach dem Hurrikan wieder Strom. Die Häuser sind wiederaufgebaut. Und die Menschen in Union Island sehen die Lichter auf Carriacou und fragten sich: ›Warum geht das dort, und warum nicht bei uns?‹«

Auch auf Canouan, einer wie Union Island zu St. Vincent gehörenden Insel, ist der Wiederaufbau viel weiter vorangeschritten. Das liegt vor allem an dem britischen Investor Ian Wace, der auf der Insel lebt und von fast allen als Wohltäter geschätzt wird. Kurzerhand hat er Arbeiter aus dem Vereinigten Königreich abgezogen, um die Häuser instand zu setzen. »Jede Woche schafft mein Team drei Dächer, egal ob Holz, Beton oder andere Materialien«, sagt Florin, der sich als Bauarbeiter aus Rumänien vorstellt. »50 Dächer haben wir allein im letzten Jahr auf Canouan neu gedeckt.« Florin erzählt, dass er mehr als 20 ahre in Großbritannien gearbeitet habe und jetzt von seiner Firma in die Karibik versetzt worden sei. Da Canouan fast vollständig wieder aufgebaut ist, nur hier und da sticht noch eine Ruine ins Auge, setzt er mit seinem Team täglich nach Union Island über und repariert dort Gebäude. Das ist ein Hoffnungsschimmer für die geplagte Einwohnerschaft der Insel.

Ob die Häuser nun katastrophensicherer gebaut werden, ist allerdings nicht zu erfahren. »Dazu braucht es mehr Zeit und Material«, sagt Florin zweifelnd. Auch Idelia Ferdinand will dazu keine Aussage treffen. Die Bedrohungen, denen die kleine Inselwelt durch den Klimawandel ausgesetzt ist, wirken allerdings übermächtig. Da sind nicht nur die Stürme, die zunehmen. Auch das Meer frisst sich an einzelnen Stellen immer tiefer ins Land. Die veränderten Niederschlagsmuster machen den Landwirten zu schaffen. Trockene Flussläufe werden bei Starkregenfällen zu Sturzbächen, die Häuser und Autos mitreißen. Hinzu kommt die Erwärmung des Meeres, die zu veränderten Bewegungsmustern der Fische führt und die Fischer zu weiteren und riskanteren Fahrten zwingt. »Die drei Säulen unserer Ökonomie, Landwirtschaft, Tourismus und Fischerei, sind allesamt durch den Klimawandel bedroht«, fasst Simmons die Lage zusammen.

Anders als viele seiner Landsleute will er sich aber nicht dem Schicksal ergeben. Über die Freiwilligenorganisationen Cyen (Caribbean Youth Environmental Network) und Jems, die er mitbegründet hat, versucht er vor allem, Jugendliche in der Region auf den Klimawandel vorzubereiten. »Die junge Generation muss damit rechnen, dass es in 10, 15 Jahren 85 Prozent der Jobs nicht mehr geben wird. Darauf muss man vorbereitet sein.« Als einen Baustein sieht er das vom in Trinidad ansässigen Caribbean Natural Resources Institute (Canari) geförderte Climate Risk Mapping Project. »Wir gehen in die Gemeinden und fragen die Menschen nach den örtlichen Gefahren. Wo sind die Fluten, wo treten Erdrutsche auf, wie hat sich das Wetter verändert. All das tragen wir auf Karten ein.« In einem nächsten Schritt geht es dann darum, Maßnahmen zu ergreifen. »Das kann das Anpflanzen von Mangroven sein, um die Erosion aufzuhalten. Das können auch einfache Dinge sein, die schnell gehen, wie etwa die Abflussrinnen an den Straßen sauber halten, damit sich kein Wasser staut.« Simmons weist außerdem auf den Botanischen Garten hin, in dem die Briten einst experimentierten, welche Pflanzen für welche Klimazonen in ihrem Kolonialreich am besten geeignet waren. »Solche Forschungen können wir jetzt auch für die Landwirtschaft im Zeichen der Klimakrise durchführen.«

Forderung nach einem Schuldenerlass

Simmons erwartet von Europa, Nordamerika und China, den Regionen, die für die Klimakrise am stärksten verantwortlich sind, vor allem einen Schuldenerlass: »Die Hilfsgelder, die bei uns ankommen, gehen zu etwa 85 Prozent für den Schuldendienst drauf«, beschwert er sich. Statt in die Infrastruktur, das Bildungswesen und Gesundheitswesen zu investieren, statt die Gesellschaft vorzubereiten für die Anpassung an die veränderten Klimaverhältnisse, geht das Geld zurück in die Geberländer.

Die globalen Verhältnisse, die Simmons beschreibt, schlagen sich auch vor Ort in Union Island nieder. »Mit dem Neubau der Dächer kommen wir verhältnismäßig gut voran. Was uns aber fehlt, das sind Fenster und Türen, um die Häuser wieder wohnlicher zu machen«, betont die Katastrophenmanagerin Idelia Ferdinand. Das Bild für diesen Mangel ist der Mann, den man in seinem Haus von der Straße aus sehen kann, wenn er schläft und wenn er zur Toilette geht.

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