Antisemitismus: Ein paar Ezzes gegen den Schmonzes

Der Bundestag ist gegen Israel-Feindschaft: Eine Antwort auf Marion Detjen

Man sieht den Bagel mit dem großen Loch und fragt sich: Wo ist der Lachs?
Man sieht den Bagel mit dem großen Loch und fragt sich: Wo ist der Lachs?

Meine Kolumne »Ezzes von Estis« in dieser Zeitung feiert den Schmonzes. Dafür begibt sich ihr Autor, also ich, auf die philosophische Suche nach dem Unsinn des Lebens. Aber manch einen Schmonzes findet man, obwohl man ihn gar gesucht hat, und oft ist der noch nicht einmal zum Feiern. So habe ich in just dieser Zeitung einen Meinungsbeitrag von Marion Detjen entdeckt, der Ende Januar online erschienen ist. Darin reagiert sie auf eine Resolution, die kurz zuvor vom Bundestag verabschiedet wurde und die »Antisemitismus und Israel-Feindschaft an Schulen und Hochschulen entschieden entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern« will. Wie schon die vorherige Antisemitismus-Resolution des Bundestags rief auch die jetzige zahlreiche Kritiker auf den Plan, insbesondere aus dem universitären Milieu. Einige Einlassungen dieser Kritiker sind durchaus reflektiert, andere zeigen – in ihrer reflexhaften Ablehnung und in der Tiefe ihrer Unkenntnis – auf augenfällige Weise selbst, warum eine solche Resolution nötig geworden ist, die unter anderem Schulung im Bereich der Antisemitismus-Prävention anmahnt.

Zwar bedeutet dies keinesfalls, die Resolution sei nicht kritikwürdig – sie ist es durchaus. Doch für Detjen bedeutet die Resolution nichts Geringeres als die Abschaffung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit; sie lasse erwarten, dass bald Indoktrination an Schulen und Hochschulen an der Tagesordnung sei; ja sie sei gar Ausdruck staatlicher Repression, Willkürjustiz und bewusster Missachtung des Grundgesetzes durch die Regierung. Und ohnehin haben wir es in Deutschland – so schreibt sich Detjen in Rage – mit einer autoritären Staatsmacht zu tun, »die den Rechtsstaat hinter sich lassen möchte«.

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Liebe Marion Detjen! Auch wenn Sie mich nicht danach fragen, habe ich ein paar Ezzes für Sie:

1. Ich empfehle einen Besuch in einem autoritär regierten Land, das den Rechtsstaat abschafft – und den Versuch, dort in einer regulären Zeitung einen Artikel zu publizieren, in dem Sie die Führung des Landes offen als »autoritär« bezeichnen. Ich habe da etwa mit Russland einschlägige Erfahrungen: Sie werden es vermutlich nicht schaffen. Und ich kann Ihnen auch nicht wünschen, dass Sie es schaffen, denn das würde für eine ganze Weile das letzte sein, was Sie veröffentlicht hätten. Dafür würden Sie immerhin auf Staatskosten die berühmten Weiten Sibiriens kennenlernen können.

2. Prüfen Sie bitte, ob die richtige Resolution auf Ihrem Tisch liegt, ob Sie den richtigen Tab geöffnet, die richtige Datei abgespeichert haben. Mir kommt es nämlich immer wieder so vor, als würden Sie sich auf ein ganz anderes Dokument berufen. So sprechen Sie etwa von der »fast ausschließlichen Fokussierung auf den sogenannten israelbezogenen Antisemitismus«. Ich bin Philologe und daher naturgemäß Pedant. Überdies genießt das präzise Lesen in der jüdischen Tradition einen hohen Stellenwert – und ich kann diese heute fast vergessene Praxis nur jedem empfehlen. Als posttalmudischer jüdischer Neurotiker und philologischer Pedant habe ich also genau nachgezählt: Von den 13 Passagen der Resolution, die israelbezogenen Antisemitismus oder Israel-Feindschaft erwähnen, stehen ganze zehn Erwähnungen innerhalb einer Aufzählung – gemeinsam mit dem nicht israelbezogenen Antisemitismus. Solche Formulierungen haben zum Ziel, auch eine Diskriminierungsform zu erfassen, die unter Studierenden laut der letztjährigen Antisemitismus-Studie der Konstanzer Universität beinah genauso häufig vorkommt wie der allgemeine Antisemitismus – und, was die potenzielle partielle Zustimmung angeht, den letzteren sogar übertrifft. Umgekehrt kommt in der Resolution der allgemeine Antisemitismus-Begriff ohne die Erwähnung des Israel-Bezugs mehr als 40-mal vor. Für Sie aber, Frau Detjen, ist das eine ausschließliche Fokussierung auf den israelbezogenen Antisemitismus? A nechtiker tog!

3. Deshalb wirkt es geradezu ironisch, wenn Sie fordern: »Man muss den Antrag schon genau lesen.« Da die Sprache des Antrags für Sie freilich eine »Orwell’sche« ist – ein Argument für diese Hypothese bleiben Sie uns wiederum schuldig –, muss man Ihrer Auffassung nach offenbar das Gegenteil dessen verstehen, was wörtlich drinsteht: Dass die Resolution rechtlich nicht bindend ist, beweist in Ihrer Logik just das Gegenteil: nämlich dass der Rechtsstaat autoritär abgeschafft wird. Dass die Resolution erklärtermaßen den freien Diskursraum sichern soll – und das hat sich in zahlreichen Fällen antisemitischer Bedrohung an Universitäten als dringend nötig erwiesen –, bedeutet für Sie, dass umgekehrt Diskursteilnehmer ausgegrenzt werden. Dass die Resolution explizit alle Formen des Antisemitismus aufzählt – den linken, den rechten, den migrantischen –, überdeckt für Sie den rechten Antisemitismus in Deutschland.

4. Was ich neben präziser Lektüre sehr empfehlen kann, sind Fakten. Man kann so vieles mit ihnen anstellen, sie ignorieren, sie verheimlichen, sie verdrehen oder, etwas schöner, journalistische Aussagen damit belegen wie bejgelach mit Lachs. In Ihrem gesamten Artikel, Frau Detjen, sehe ich – und das muss angesichts Ihres Einsatzes für die Wissenschaft besondere Ironie sein – keine einzige Referenz auf ein faktisches Ereignis (Wie wäre es mit einer der zahlreichen Universitätsbesetzungen durch terrorverherrlichende Gruppen?), keine einzige Zahl (Wie wäre es zum Beispiel mit der Zahl antisemitischer Straftaten seit dem 7. Oktober 2023?) und kein einziges Studienergebnis (Wie wäre es zum Beispiel mit der Konstanzer Antisemitismus-Studie?). Ich sehe den Bagel mit dem großen Loch, aber ich frage Sie: Wo ist der Lachs?

5. Stellen Sie sich einen Arztbesuch vor. Sie sagen dem Arzt: »Ich habe so ein Stechen in der Brust.« Der Arzt antwortet: »Ja und? Sie haben ja auch diesen Leberfleck und O-Beine. Außerdem war gerade eine Patientin mit Nierenproblemen hier. Und überhaupt, denken Sie gar nicht daran, wie es mir geht? Das ist vermutlich nicht, was Sie von einem Arztbesuch erwarten. Man nennt es: Whataboutism. Die Unterdrückung und Diskriminierung von Palästinensern komme in der Resolution nicht vor, so geht Ihre Anklage, und der exklusive Einsatz gegen den Antisemitismus stärke sogar «rassistische Stereotype und die Marginalisierung betroffener Gruppen». Nun, es handelt sich um eine Resolution gegen Antisemitismus. Daher hat sie – Überraschung! – den Antisemitismus zum Thema. Resolutionen gegen andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mögen folgen. Der Bundestag hat sich mehrfach mit sogenanntem antimuslimischen Rassismus befasst, darunter auch mit dessen Anstieg seit dem 7. Oktober 2023, und hier besteht gewiss weiterer Handlungsbedarf. Allein: Zu unterstellen, «Einsatz gegen Antisemitismus» sei, wenn er nicht an jeder Stelle andere Diskriminierungsformen mitdenke, quasi automatisch rassistisch, ist reine Chuzpe.

6. Allen, denen solche und andere Kritik an Antisemitismus-Maßnahmen schneller über die Lippen kommt, als sie denken und erst recht recherchieren können, sei die Substitutionsprobe ans Herz gelegt: Ersetzen Sie in der Resolution (dem offenen Brief, der Stellungnahme, …) beim Lesen «Antisemitismus» durch andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, etwa «Sexismus» oder «Queerfeindlichkeit» oder «Rassismus». Horchen Sie in sich hinein: Löst das bei Ihnen die gleichen Abwehrreflexe aus? Wenn nicht, ist Ihre Kritik mit ziemlicher Sicherheit bester Schmonzes.

Glossar: Schmonzes – Unsinn, Ezzes – Ratschläge, A nechtiker tog! – wörtl.: «Ein nächtlicher Tag» (ein Absurdum), Bejgelach – Bagels, Chuzpe – Frechheit

Man sieht den Bagel mit dem großen Loch und fragt sich: Wo ist der Lachs?
Man sieht den Bagel mit dem großen Loch und fragt sich: Wo ist der Lachs?

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