Eine Goldlocke und vier Silberlocken

Gregor Gysi, Bodo Ramelow, Dietmar Bartsch und Christian Görke in Cottbus – und Yasmin Kirsten

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Christian Görke am Montag links auf dem Altmarkt, Dietmar Bartsch rechts an der Gulaschkanone
Christian Görke am Montag links auf dem Altmarkt, Dietmar Bartsch rechts an der Gulaschkanone

238 Sitzplätze gibt es im Saal des Alten Stadthauses von Cottbus. Sie sind am Montag schon lange restlos besetzt, bevor die Veranstaltung nach 16 Uhr beginnt. Im Saal sitzen auch noch Leute hinten auf den Stufen der Treppe zur Empore und viele stehen am Rand. Mehr konnten nicht hereingelassen werden. Draußen auf dem Altmarkt harren weitere 200 Menschen in der Eiskälte aus und verfolgen dort eine Videoübertragung des Termins.

An diese Tapferen richten Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch zunächst ein paar Worte, bevor sie in den geheizten Saal kommen. Es ist der letzte gemeinsame Auftritt der drei Silberlocken vor der Bundestagswahl am 23. September. Wegen ihrer schütteren, schon angegrauten Haare haben die drei Politiker ihre Aktion zur Rettung der Linken »Mission Silberlocke« getauft. Sie wollen je einen Wahlkreis in Berlin, Erfurt und Rostock gewinnen und damit den Wiedereinzug der Sozialisten ins Parlament absichern, falls die Partei die Fünf-Prozent-Hürde verfehlen sollte.

»Ich habe schon viel erlebt in der Politik, aber das hat uns alle überrascht.«

Christian Görke Bundestagsabgeordneter

»Bei Gregor bin ich ganz sicher, bei Bodo bin ich sicher und ich kämpfe noch«, schätzt Dietmar Bartsch die Erfolgschancen ein. Doch inzwischen sind die drei Direktmandate als Absicherung vielleicht gar nicht mehr so bitter nötig. Man solle den Tag nicht vor dem Abend loben, warnt ein Sprichwort, sich einer Sache zu früh sicher zu sein. Dies abgewandelt erklärt Bartsch: »Ich will den Sonntag nicht vor 18 Uhr loben.« Doch zuletzt sind die Umfragewerte der Partei immer weiter geklettert auf sechs und sieben Prozent, ja sogar auf neun Prozent. Bartsch formuliert es in Cottbus ganz vorsichtig: Dass der Einzug der Linken in den Bundestag wieder wahrscheinlich sei, zumindest darauf dürfe man jetzt schon stolz sein.

»Ich habe schon viel erlebt in der Politik, aber das hat uns alle überrascht«, gesteht der Bundestagsabgeordnete Christian Görke (Linke). Er hat seinen Wahlkreis in Cottbus und Spree-Neiße und hat die drei Silberlocken dorthin eingeladen. Gysi ist 77 Jahre alt, Ramelow 69 Jahre, Bartsch 66 und Görke 62. Angesichts dessen hatte Görke die Idee, eine junge Frau sollte mit den alten Männern auf der Bühne sitzen und sie befragen – die 25 Jahre alte Yasmin Kirsten. Ein »Goldlöckchen«, wie Görke sie nennt.

Kirsten trägt sehr lange, blonde, gelockte Haare. Die Bezeichnung Goldlocke passt durchaus, nur die Verniedlichung Löckchen nicht. Denn die 25-Jährige ist bereits zehn Jahre Mitglied der Linken, mittlerweile stellvertretende Landesvorsitzende in Brandenburg und beweist jetzt Fähigkeiten als Moderatorin. Dabei beschränkt sie sich nicht auf die Rolle einer Stichwortgeberin, sondern trägt inhaltlich selbst etwas bei zum Gelingen des Termins. Nach ihrer Ausbildung als Krankenpflegerin habe sie festgestellt, dass sie in Hamburg oder Köln in ihrem Beruf fast 1000 Euro im Monat mehr verdienen könnte als in ihrer Heimatstadt Cottbus, erzählt Kirsten beispielsweise. Außerdem müsste sie dort nur 39 Stunden in der Woche dafür arbeiten statt hier 40 Stunden.

Mit dieser persönlichen Geschichte leitet Kirsten eine Runde ein, in der die Silberlocken darüber sprechen, wie Ostdeutsche noch immer benachteiligt werden und was getan werden könnte, um solche Missstände abzustellen. Gesprochen wird gut anderthalb Stunden unter anderem auch darüber, dass jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik in Armut lebe und jeder vierte Rentner, und über die 90 Milliarden Euro, die in einem Jahr für das Militär fließen, während die Kindergrundsicherung angeblich an sechs Milliarden Euro gescheitert sei.

Die Ideen der Linken sind nicht neu, aber plötzlich werden sie wieder gehört. »Selbstbeschäftigung, Selbstbeschäftigung, Selbstbeschäftigung, Streit, Streit, Streit«, das sei im vergangenen Jahr die Situation der Linken gewesen, die zu indiskutabel schlechten Wahlergebnissen geführt habe, erinnert Gysi. Seit dem Bundesparteitag im Herbst spürt er: »Leidenschaft, ein Schuss Humor, plötzlich eine andere Stimmung.«

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Christian Görke war einer von wenigen Genossen, der kurz nach der vergeigten Brandenburger Landtagswahl vom 22. September an eine mögliche Trendwende glaubte. Binnen 15 Jahren war die Partei hier von 27,2 Prozent auf knapp drei Prozent abgestürzt und aus dem Landtag geflogen. Als ihn seine Genossen Anfang Dezember in Cottbus als Direktkandidaten im hiesigen Bundestagswahlkreis nominierten, behauptete Görke dennoch steif und fest: »Wir haben die Chance, die Fünf-Prozent-Hürde zu nehmen. Wir haben auch die Chance, mindestens drei Wahlkreise zu gewinnen.« Sein Optimismus ist unverwüstlich. Der Sportlehrer glaubt als Fußballfan auch noch an den Sieg seiner Mannschaft, wenn diese weniger als 20 Minuten kurz vor Abpfiff mit 0:2 hinten liegt. Aber dass sich seine Partei so kurz vor dem 23. Februar derart aufrappeln kann, hätte selbst er nicht für möglich gehalten.

Im Alten Stadthaus hört Görke meistens nur zu und strahlt dabei glücklich und zufrieden. Er lässt Yasmin Kirsten und die drei Silberlocken machen. »Ich habe mich heute sehr, sehr zurückgehalten. Es ist mit sehr schwer gefallen«, bekennt Görke zum Schluss. Wer mehr von ihm hören wolle, könne aber mitkommen zum Wahlforum des Vereins Junge Lausitz. Dort werde er gleich mehr sagen, verspricht der Politiker. Bis er um 19 Uhr beim Wahlforum im Startblock B2 am Siemens-Halske-Ring auftritt – Görke spricht versehentlich vom Ostblock –, hat der ehemalige brandenburgische Finanzminister noch etwas Zeit für Glühwein und Erbsensuppe aus der Gulaschkanone. Die werden auf dem schneebedeckten Altmarkt für die Unentwegten ausgeschenkt.

Es scharen sich etliche junge Leute um Görke, darunter einige Neumitglieder der Partei. Der Landesverband Brandenburg erlebt wie alle anderen Landesverbände eine ungeahnte Eintrittswelle. Seit dem 1. Januar kletterte die Mitgliederzahl bis Dienstag von 4118 auf 4850. »Bald knacken wir die 5000«, sagt Yasmin Kirsten. Wenn weiterhin 20 bis 50 Neueintritte am Tag zu verzeichnen sind, könnte es schon bis Sonntag so weit sein.

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