Christian Baron: Er durchschaut das alles

Christian Baron über sein Schreiben und die Gesellschaft, in der wir leben

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Für eine »Kaiserslauterner Trilogie«: Christian Baron bei den Dreharbeiten zu »Ein Mann seiner Klasse« mit Hauptdarsteller Camille Moltzen
Für eine »Kaiserslauterner Trilogie«: Christian Baron bei den Dreharbeiten zu »Ein Mann seiner Klasse« mit Hauptdarsteller Camille Moltzen

Günter Grass, Susan Sontag, Peter Rühmkorf, Jonathan Franzen, Brigitte Kronauer, Christoph Ransmayr … und nun Christian Baron: Die Einladung zur »Tübinger Poetik-Dozentur« 2023 zeigte, dass er inzwischen zur Oberliga des Literaturbetriebs gehört. Wobei der Literaturbetrieb nicht seine Sache ist. Er weiß, wie sich auf dem Buchmarkt die Welt der Kunst und die des Geldes durchdringen und wie sein viel beachtetes Debüt, sein autobiografischer Roman über seinen proletarischen Vater »Ein Mann seiner Klasse«, ihn in eine Rolle presst. Es machte ihn gleichsam zu einer Art Klassensprecher, dabei will er doch auch als Erzähler wahrgenommen werden.

Beides ist er durch Begabung und Bemühen geworden. Zudem war die Zeit reif, auch hierzulande jene Tür aufzustoßen, die Didier Eribon, Annie Ernaux und Édouard Louis von Frankreich aus schon publikumswirksam geöffnet hatten. Da passte es gut, dass Louis 2023 ebenfalls Gastdozent war und die Texte beider Autoren nun in einem Band des Swiridoff-Verlages nachzulesen sind.

»Auf den ersten Blick könnte man sagen, dass die große Leistung der Autosoziobiografien von Baron und Louis der Bericht von einem spektakulären Bildungsaufstieg ist«, heißt es im Nachwort. »Vielleicht ist aber die viel größere Leistung, dass sie die Welt, aus der sie kommen, nicht nur hinter sich gelassen, sondern irgendwie, jeder auf eine sehr bemerkenswerte Weise, mitgenommen haben.« Hier soll es nur um Christian Baron gehen, der bis 2018 Theater-Redakteur beim »nd« war.

Er beginnt seine erste Vorlesung, »Die Zeit der Monster«, mit Horrorfilmen, die die Horrorwirklichkeit seiner Kindheit begleitet haben. Es war ein langer Weg gewesen, seinen prügelnden Vater doch irgendwie zu verstehen. Der Begriff der »Klasse« half ihm dabei: »Eine Gesellschaft, die Menschen systematisch von der ökonomischen und kulturellen Teilnahme an ihrem Wohlstand ausschließt, darf sich nicht wundern, wenn diese Ausgeschlossenen im Übertreten bürgerlicher Wertvorstellungen ein Refugium widerständigen Verhaltens und damit eine Art letzter Würde zu finden hoffen.«

Lesend ist man immer wieder erstaunt, wie Christian Baron beim freimütigen Erzählen zu sozialen Analysen kommt, die in ihrer Treffsicherheit einem gutbürgerlichen Publikum unter die Haut gehen müssen. Er biedert sich nicht an, sucht aber auch nicht die Konfrontation. Er prahlt nicht mit seinem immensen Wissen, spricht auf eine so authentische Weise von sich, dass seine Texte und Themen auch für jene, die ganz anders aufgewachsen sind, nachvollziehbar sind. Indem er von seinem literarischen Werdegang berichtet, seiner Idee einer »Kaiserslauterner Trilogie« über die Gegend, in der er aufgewachsen ist, will er zugleich auf größere Zusammenhänge hinaus. »Ein Mensch mit Klassenscham lebt mit dem Eindruck, nicht mithalten zu können in fast allem, was sozial erwartet wird. Und da der Kapitalismus so funktioniert, dass er dem Individuum alle Schuld an seinem Schicksal zuweist, sind Scham und Angst auch gleichrangig die Grundgefühle der Armut. Das trifft auch dann zu, wenn sie sich mit Stolz tarnen.« Solche Sätze sollte man sich einprägen.

Die »Klassenscham« abzuwerfen, aber keinesfalls die eigene Herkunft zu verleugnen, das ist eine mentale Leistung, die Christian Barons Schreiben so besonders macht. »Kunstbeflissenheit muss sich der Bildungsaufsteiger erarbeiten wie eine Fremdsprache.« Was er alles kennt aus Gesellschaftswissenschaft, Literatur, Theater, Film hat mich schon beeindruckt, als er als Praktikant zu uns ins Feuilleton des »nd« kam. Inzwischen wurde ja »Ein Mann seiner Klasse« auch verfilmt. In einem Interview mit Wolfgang M. Schmitt, das auch im Band enthalten ist, spricht er über die Problematik von Literaturverfilmungen.

Und das alles ohne die Maske des Erfolgreichen, mit der sich Menschen in dieser Klassengesellschaft auch schützen. Denn er durchschaut das alles: das Hamsterrad der entfremdeten Lohnarbeit (ich wusste gar nicht, dass es in der BRD kein Arbeitsgesetzbuch gibt), die Tücken der »Selbstverwirklichungsschraube«, die sich bei vielen »zum Burn-out überdreht«, und die weitgehende Verleugnung dieser Misere in der Kunst, »als wären wir alle Freigeister, die von Luft und Liebe allein leben«. Seine eigenen beengten Wohnverhältnisse deutet er nur ganz kurz an, ohne sie zu beklagen, und kommt gleich auf seine Arbeit an Texten, die in Gedanken auch beim Wickeln des Kindes, beim Spazierengehen und Einkaufen und beim Babyschwimmen stattfindet. Manchmal habe er »beim Einräumen der Spülmaschine scheinbar den idealen Einstieg gefunden, ehe ich ihn beim Ausräumen der Spülmaschine schon wieder in den imaginären Papierkorb werfe«.

Gegen den Begriff »Therapie« für sein Schreiben wehrt er sich. Und es ist ihm auch klar: Soziale Gerechtigkeit anzumahnen, bedeutet noch lange nicht, sie zu erreichen. Das Widersprüchliche ist es, das ihn fasziniert. »Denn mein wichtigster Impuls zum Schreiben ist etwas, das in der Gegenwart leider aus der Mode kommt: Ich will verstehen.«

Christian Baron/Édouard Louis: Um sein Leben schreiben – Texte zu Herkunft und Zukunft. Hg. v. Dorothee Kimmich u. Philipp Alexander Ostrowicz, unter Mitarb. v. Sara Bangert. Swiridoff-Verlag, 137 S., br., 14 €.

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