Burhan Qurbani: »Es geht bei mir immer um das Fremde«

Regisseur Burhan Qurbani im Interview über seinen Film »Kein Tier. So Wild.« und die Angst vor einer bestimmten politischen Zukunft in Deutschland

Shakespeares Figur Richard York wird in »Kein Tier. So Wild.« von Burhan Qurbani zur arabischen Frau Rashida (gespielt von Kenda Hmeidan).
Shakespeares Figur Richard York wird in »Kein Tier. So Wild.« von Burhan Qurbani zur arabischen Frau Rashida (gespielt von Kenda Hmeidan).

Herr Qurbani, was hat Sie an dem Theaterstück »Richard III.« so inspiriert, dass Sie es als Grundlage für Ihren neuen Film »Kein Tier. So Wild.« genommen haben?

Richard ist nicht das bekannteste und nicht das beste Stück von Shakespeare, es kommt nicht aus seiner goldenen Ära. Es ist nicht »Hamlet«, es ist nicht »Romeo und Julia«. »Richard III.« habe ich zum ersten Mal mit 16, 17 Jahren gelesen, und ich mochte immer diese Figur, die zwar Teil einer Familie ist, in dieser aber doch außen vor ist, die durch ihre körperliche Einschränkung schon irgendwie verloren hat. So habe ich mich auch ein bisschen gefühlt, in dem Sinne, dass ich alleine durch mein Äußeres in meiner Umwelt immer sichtbar bin, aber auch immer außerhalb stehe – und dass ich nie so richtig reinkommen darf. Doch Richard nimmt sich das dann einfach. Er ist charmant, witzig, aber auch brutal und grausam, er ist eine dramatische Figur in jedem Sinne. Das hat mich immer total fasziniert an ihm. Eine Figur wie Richard findet man immer wieder in meinen Filmen: Bei »Berlin Alexanderplatz« ist es Albrecht Schuchs Charakter Reinhold, der auch mit so einem Buckel herumläuft. Und bei »Wir sind jung. Wir sind stark.« ist es die Figur Robbie, die von Joel Basman gespielt wurde. Er hat auch eine ganz komische körperliche Dynamik. Und er kommt auch von außen und bohrt sich immer wieder rein und nimmt sich so den Raum. Das finde ich so spannend. Schon als Kind, als Jugendlicher war ich immer auf der Seite der Außenseiter, ich kann nicht anders. Und Richard ist für mich im Shakespeare-Universum der ultimative Außenseiter.

Interview

Burhan Qurbani wurde 1980 als Kind afghanischer Kriegs­flücht­linge in Deutsch­land geboren. Durch die Beschäf­ti­gung seines Vaters bei der US-Armee wuchs er in ver­schie­de­nen deut­schen Städten auf. Nach dem Abitur arbeitete er als Drama­tur­gie- und Regie­assistent an verschiedenen Theatern. Er ist Absolvent der Film­akademie Baden-Württem­berg. Sein Diplom­film »Shahada« feierte 2010 im Wett­bewerb der Berlinale Premiere. Sein zweiter Film »Wir sind jung. Wir sind stark.« eröffnete 2014 das Film­fest in Rom und die Hofer Film­tage. Für »Berlin Alexan­der­platz« wurde er 2020 erneut in den Wett­bewerb der Berlinale eingeladen.

In »Kein Tier. So Wild.« haben Sie – wie in Ihrem vorherigen Film »Berlin Alexanderplatz« – eine klassische Geschichte in der heutigen Zeit und vor allem in Berlin spielen lassen und die Hauptcharaktere neu definiert. In »Berlin Alexanderplatz« wird Franz Biberkopf zum afrikanischen Flüchtling Francis. Und in »Kein Tier. So Wild.« sind die königlichen Familien York und Lancaster zwei arabische Clans. Erzählen Sie ein bisschen über diese Herangehensweise?

Alles hat für mich mit einem Bild angefangen. Durch Instagram bin ich auf ein Bild gestoßen: Es waren vier Mädchen, die Theater spielten. Ich war ganz sicher, dass sie arabische Mädchen waren, wegen ihrer Kleidung und wegen des Umfelds. Es war eine wüste Gebirgslandschaft. Ich fragte mich: Ist das irgendwo im Irak oder in Kurdistan? Oder ist es das Freedom-Theater in Dschenin? Das hat mich jedenfalls völlig angezogen. Ich dachte, sie spielen vielleicht Shakespeare, womöglich sogar »Richard III.«. So kam erst mal die Idee von einem Gender-Swap: Vielleicht ist Richard einfach mal eine Frau. Eine historische Geschichte wäre schwer zu realisieren gewesen, also erzählte ich es im Hier und Jetzt. Und wenn die Könige und Königinnen damals nur die mit dem größten Stock waren, also im Grunde auch Gangster, dann, dachte ich, lass uns das ins Heute auch als Gangster übersetzen. So hat sich das peu à peu ergeben.

In Ihren Filmen gibt es immer einen Berlin-Bezug. Was ist Berlin für Sie?

Ich fühle mich nur in Berlin zu Hause. Ich merke, dass ich in jeder anderen deutschen Stadt oder auch in jeder anderen Stadt ganz schnell Heimweh bekomme und zurück nach Berlin will. Ich wohne in Neukölln. Das einzige Mal, als ich mich ähnlich wohlgefühlt habe, war in Kairo. Durch Zufall bin ich während des Lockdowns dort gestrandet. In den drei Monaten, die ich da verbracht habe, habe ich so einen ähnlichen Puls, einen ähnlichen Sound, einen ähnlichen Rhythmus gespürt. Das mag ich in Berlin, und irgendwie übersetze ich das auch immer in meiner Arbeit. Ich habe das Gefühl, dass ich mich schwertun würde, einen Film außerhalb von Berlin zu erzählen. Aber ich merke auch, dass dieses Berlin, das ich in meinen beiden letzten Filmen gezeigt habe, nicht das Berlin ist, das man so kennt. In »Das Licht« zum Beispiel, dem Eröffnungsfilm der Berlinale, kannte ich all diese Orte, sie waren sehr normal und realistisch. Das Berlin, das ich gerne zeigen möchte, ist ungewöhnlicher und surrealer.

Wenn man einen Migrationshintergrund hat oder eine bestimmte Herkunft, wird man häufig und vor allem im Berufsleben dazu gebracht, sich auch lieber mit seinem Migrationshintergrund oder seiner Herkunft zu beschäftigen. Du darfst erst dann reden, wenn du dich mit deiner Herkunft befasst. Manchmal will man das selbst, weil man denkt, das ist wichtig – wenn ich das besser machen kann, dann muss ich das auch machen. Aber oft wird man eher auf die Herkunft reduziert. Wie ist das für Sie? Wie haben Sie im Laufe Ihrer Karriere Ihre Themen gefunden?

In meinem ersten Film »Schahada« ging es sehr stark um die muslimische Community – der Film hatte auf der Berlinale Premiere, und das war auch großartig. Aber das Erwachen danach war, dass ich ein Jahr lang nur noch Angebote bekommen habe, die Geschichten über Menschen mit Migrationshintergrund erzählten, vor allem über diejenigen, die muslimischen Glaubens sind. Also viele Kopftücher und so viele Moscheen. Da habe ich gemerkt, ich werde gerade zum Berufsmigranten. Ich muss jetzt ein Bild von mir als Regisseur erfüllen und darf nur noch solche Filme machen. Und ich glaube, gerade deshalb habe ich als nächstes Werk einen Film über weiße deutsche Neonazis gemacht. Weil ich da rauswollte.

In letzter Zeit habe ich sehr viel darüber nachgedacht. Ich bin jetzt 44 Jahre alt und weiß gar nicht, zu welcher Community ich wirklich gehöre. Von der afghanischen Community bin ich nie wirklich umarmt und aufgenommen worden. Ich bin auch nicht so richtig in ihr aufgewachsen; also meine Eltern haben sich getrennt, und meine Mutter hat uns, meinen Bruder und mich, relativ früh aus der afghanischen Community herausgeholt, weil sie Angst hatte, uns zu verlieren. Aber in Deutschland bin ich auch nur fremd. In meinen Filmen spielen nun Menschen mit Migrationsgeschichte, mit Kriegserfahrungen eine Rolle, weil es in meinem Leben eine Rolle gespielt hat. Doch am Ende geht es bei mir immer um das Fremde. Also Aliens, Menschen, die nicht richtig mitmachen dürfen, die in keine Gruppe wirklich reingehören, wie Richard III., also die Rashida in meinem Film. Was ich gerade über mich verstehe, wenn ich auf vier Filme von mir zurückschaue, ist das: Es geht nie um eine spezifische Gruppe, es geht immer nur um eine spezifische Person in der Gruppe. Und es ist immer der Fremde/die Fremde. Das ist das, was ich als Regisseur zu erzählen habe. Und das können bei mir eben auch junge Neonazis sein, die plötzlich im neuen Deutschland fremd sind. Oder ein afrikanischer Mann, der an die Küste Europas gespült wird, oder eben eine arabische Frau, die in ihrer Clan-Community sagt: Ich will jetzt an die Macht.

Wollten Sie immer Regisseur werden?

Nein. Ich bin ein bisschen socially awkward. Also für mich ist es ein Arbeitsakt, sozial zu sein. Und ich dachte, ich wäre besser ein Autor, der nur schreibt, oder Dramaturg, sodass ich mich so immer hinter der Regie verstecken kann. Es hat sich eher durch Zufall ergeben, dass ich mich beim Studium für Regie beworben habe, und dann bin ich so reingewachsen in diese Rolle. Ein guter Filmemacher zu sein, heißt für mich, auch ein guter Mensch zu sein, ein Team einzubinden und für alle da zu sein. Und das heißt, dass meine sozialen Batterien nach jedem Dreh völlig leer sind und ich wahrscheinlich ein, zwei Monate depressiv bin und mit niemandem mehr reden kann. Aber wenn ich am Set bin, versuche ich immer, der bestmögliche Regisseur zu sein.

Was machen Sie denn sonst gerne, wenn Sie keinen Film drehen?

Ich denke gern darüber nach, was ich als nächsten Film machen möchte. Aber ich arbeite momentan zum ersten Mal an einer Theaterproduktion, für das Thalia-Theater in Hamburg. Das ist für mich ein Abenteuer, bedeutet für mich, meinen Stil noch mal neu zu lernen. Und ich dachte, ich kann mir jetzt zwei Jahre Pause leisten. Aber so, wie es sich politisch entwickelt, weiß ich nicht, ob ich in zwei Jahren noch in Deutschland Filme machen kann.

Viele reden gerade von dieser Angst. Angst vor einer bestimmten Zukunft hier in Deutschland. Ich wollte Sie fragen, was Ihnen trotzdem Hoffnung macht. Oder macht Ihnen etwas Hoffnung?

Wissen Sie, wovon mein Theaterstück handelt? Da geht es um Selbstmord. Womit ich mich gerade beschäftige, ist eine Figur, die sagt: Ich war doch immer der perfekte Ausländer, ich habe doch alles richtig gemacht. Ich habe mich nicht beschwert, ich habe brav gearbeitet, brav meine Steuern bezahlt, ich habe nichts gesagt, als ihr »Scheiß Ausländer« gerufen habt. Und jetzt schmeißt ihr mich raus, jetzt wählt ihr mich ab, jetzt wollen 20, 22, 23 Prozent der Menschen in diesem Land mich nicht mehr haben, nachdem ich doch so brav war. Dann werde ich, weil ich ein guter, braver Ausländer bin, mich heute umbringen.

Sie sehen, ich habe keine Hoffnung, es wird nicht besser werden, es wird schlimmer werden. Marx hat gesagt, Geschichte wiederholt sich – erst als Tragödie, dann als Farce. Wir sind gerade im Moment der Farce. Und das macht mich völlig fertig. Ich weiß nicht, wohin. Ich kann nicht nach Afghanistan zurück, und es gibt auch in Europa inzwischen keine sicheren Länder mehr. Aber darum geht es auch nicht. Das, was fehlt, ist nicht das sichere Zufluchtsland. Ich glaube, was fehlt, ist eine echte Vision für eine Zukunft, in der wir als Zivilgesellschaft wirklich aufeinander hören, miteinander umgehen, unsere Wut für eine Sekunde ablegen, uns anschauen und miteinander arbeiten. Und ich habe diese Hoffnung, diese Utopie nicht mehr im Kopf. Haben Sie Hoffnung?

Ich bin gerade nicht der optimistische Mensch, aber ohne Hoffnung kann ich einfach nicht weitermachen.

Ich mache weiter, trotz der Hoffnungslosigkeit, weil ich glaube, dass der Mensch einfach weitermachen muss. Ich sehe gerade die Bilder von Hunderttausenden Menschen, die vom Süden von Gaza nach Norden gehen, und frage mich: Wo nehmt ihr diese Kraft her? Ich finde, da ist so viel Würde, dass diese Leute nach Hause gehen, in ihre zerbombte Heimat, und Farbe draufmachen und aufbauen und aufräumen. Dann schäme ich mich, wenn ich in einem der reichsten Länder der Welt lebe und sage, ich habe keine Hoffnung. Also Burhan, fuck you!

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.