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Tocotronic: Liebe gegen Gewalt
Leichte Ermüdungstendenzen: »Golden Years«, das neue und insgesamt 14. Album von Tocotronic
Als etwas sentimental erscheint zunächst der Titel des neuen Tocotronic-Albums: »Golden Years«. Begibt sich die Band damit nicht in eine sentimentale Nabelschau? Nein, so einfach ist es natürlich nicht. Tocotronic gelten als Mitbegründer des Diskurs Rock – und damit nicht umsonst als Meister der Doppeldeutigkeit. Und so ist der Titel einerseits eine Reminiszenz an den von der Band verehrten David Bowie, der 1976 einen gleichnamigen Song auf seinem Jahrhundertalbum »Station to Station« platzierte. Andererseits ist er nicht nur nostalgisch, vielmehr sieht Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow in ihm ein »offenes System« – eben weil er offenlasse, ob es sich dabei um eine Rückblende, eine utopische Zukunftsvorstellung oder gar um eine sarkastische Gegenwartsdeutung handle.
Allzu viel utopisches Potenzial hat die Band dem Album gleichwohl nicht eingeflößt – wer mag es ihr verübeln angesichts der trüb-braunen Gegenwart. Auf »Golden Years« ist man inhaltlich vor allem damit beschäftigt, dem gesellschaftlichen Regress entgegenzutreten: Auf wohltuend plakative Weise im vorab ausgekoppelte Uptempo-Track »Denn sie wissen, was sie tun«. Da schwingt sich Lowtzow für einen kurzen Moment zu einer Reinkarnation Rio Reisers auf. schwingt. Kämpferisch-agitatorisch heißt es in Richtung AfD, FPÖ & Co: »Diese Menschen sind gefährlich, denn sie wissen, was sie tun« und »Darum muss man sie bekämpfen, denn sie werden zahlreicher«. Fehlt nur, dass die Band den Song mit der Zeile »Macht kaputt, was euch kaputt macht« beschließt, tut sie aber nicht. Stattdessen empfehlen Tocotronic Liebe als Gegenmittel zur Gewalt: »Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt.«
Das Album der Woche. Weitere Texte unter dasnd.de/plattenbau
Musikalisch bewegt man sich durchweg auf altbewährtem Terrain. Warum sollte man es auch verlassen? Denn die Band weiß um das gewisse Etwas, dessen es bedarf, um einen guten Song zu einem herausragenden zu machen. Und doch wünscht man sich zuweilen, die Band möge sich am Pop-Chamäleon Bowie ein Beispiel nehmen und mal für einen Moment aus ihrem Korsett ausbrechen: Die typischen Akkordwechsel, die hymnischen Hooks – all das kennt man von den 13 Vorgänger-Alben bereits zur Genüge. Und so schleichen sich hier und da leichte Ermüdungstendenzen ein, ohne dass dabei immer eindeutig auszumachen wäre, ob aufseiten des Hörers oder der Band. Wahrscheinlich verhält es sich dahingehend wie in jeder Beziehung: Beide tragen dafür eine Verantwortung.
Der Song »Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal« etwa mag nicht so recht zünden – und das trotz der fantastischen Hüsker-Dü-Noise-Gitarren-Kaskaden des langjährigen Lead-Gitarristen Rick McPhail, der nach Beendigung der Albumaufnahmen seinen Ausstieg aus der Band verkündet hat. Und auch auf die Nabelschau in »Jeden Tag ein neuer Song« hätte man gut und gerne verzichten können – auch wenn diese sympathischerweise immerhin offengelegt wird: »Und dann verbrenne ich jeden Tag einen neuen Song über die Eitelkeit.«
Demgegenüber aber stehen mehrere starke Songs wie der Opener »Der Tod ist nur ein Traum«, der Titeltrack oder »Vergiss die Finsternis«. Und mit »Bleib am Leben« präsentieren Tocotronic gar einen waschechten Überhit, der angesichts der politisch-gesellschaftlichen Krisenlage im wahrsten Sinne des Wortes zur rechten Zeit erscheint. Und doch bleibt – wie schon auf den beiden Vorgängern »Die Unendlichkeit« und »Nie Wieder Krieg« – am Ende die Erkenntnis: Ein gutes Album ist nicht zwangsläufig ein gutes Tocotronic-Album. Das wiederum hat sich die Band selbst eingebrockt.
Tocotronic: »Golden Years« (Epic Local/Sony Music)
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