Ukraine-Krieg: Eine verheerende Bilanz

Bestandsaufnahme der Ukraine nach drei Jahren Krieg

Große Bereiche der ukrainischen Infrastruktur sind zerstört. Der Aufbau läuft, wird aber noch viele Jahre in Anspruch nehmen.
Große Bereiche der ukrainischen Infrastruktur sind zerstört. Der Aufbau läuft, wird aber noch viele Jahre in Anspruch nehmen.

Seit drei Jahren herrscht in der Ukraine Krieg. Ganze Städte wurden zerstört, die Menschen leiden unter hohen Preisen und der Angst vor der Mobilisierung. Das Land wird auch in Zukunft auf ausländische Hilfe angewiesen sein. Ein Überblick über den Zustand der Ukraine.

Zerstörung

In den vergangenen Wochen konnte die russische Armee in der Ostukraine größere Geländegewinne erzielen und hat zugleich den Beschuss von Städten intensiviert. Insgesamt, so der aktuellste Bericht der Kyiv School of Economics (KSE) vom 14. Februar beziffert sich der Gesamtschaden der ukrainischen Infrastruktur auf 170 Milliarden US-Dollar. Das sind 12,6 Milliarden US-Dollar mehr als zu Jahresbeginn 2024.

Am stärksten betroffen ist nach wie vor der Wohnungssektor, wobei die direkten Schäden auf 60 Milliarden US-Dollar geschätzt werden. Im November 2024 waren 236 000 Wohngebäude beschädigt oder zerstört, davon 209 000 Privathäuser, 27 000 Mehrfamilienhäuser und 600 Wohnheime. Regional gesehen erlitten die Regionen Donezk, Charkiw, Luhansk, Kiew, Tschernihiw und Cherson die größten Schäden.

Im Bereich Transportinfrastruktur liegt der Schaden bei 38,5 Milliarden US-Dollar. 26 000 Kilometer Straßen sind zerstört oder beschädigt, was 28,3 Milliarden US-Dollar ausmacht. Bei der Eisenbahn belaufen sich die Verluste auf 4,3 Milliarden US-Dollar, in der Luftfahrt auf zwei Milliarden und bei den Häfen auf 850 Millionen US-Dollar. Zudem seien nach KSE 260 000 Autos im Wert von 2,2 Milliarden US-Dollar zerstört oder beschädigt.

Im Energiebereich hat der Krieg Schäden in Höhe von 14,6 Milliarden US-Dollar verursacht. Besonders betroffen sind Umspannwerke sowie die Gas- und Ölinfrastruktur. Wirtschafts- und Bausektor haben Verluste von 14,4 Milliarden US-Dollar erlitten, die Landwirtschaft 10,3 Milliarden (dabei sollen 130 landwirtschaftliche Fahrzeuge in Mitleidenschaft gezogen und vier Millionen Tonnen gelagertes Getreide vernichtet worden sein). Im Bildungsbereich beziffert die KSE den Schaden auf 7,3 Milliarden US-Dollar.

Todesopfer und Bevölkerung

Anfang Januar zeigten sich die UN besorgt. Die Zahl der zivilen Opfer sei 2024 gegenüber dem Vorjahr um 30 Prozent gestiegen, heißt es im Bericht von Rosemary DiCarlo, Untergeneralsekretärin für politische und friedenskonsolidierende Angelegenheiten. Bis zum 31. Dezember 2024 verloren laut UN mindestens 12 456 Zivilisten ihr Leben, darunter 669 Kinder. 28 382 Zivilisten wurden verwundet, darunter 1833 Kinder. Die tatsächlichen Zahlen dürften aber höher sein, so DiCarlo.

Wie viele Soldaten in den vergangenen drei Jahren ums Leben kamen oder verletzt wurden, wird in Russland wie in der Ukraine nicht offenbart. Vor wenigen Tagen sprach Wolodymyr Selenskyj beim US-Sender NBC von 46 000 getöteten und bis zu 380 000 verwundeten ukrainischen Soldaten. Vor einem Jahr waren es laut Selenskyj 31 000 getötete ukrainische Soldaten. Das würde bedeuten, dass im vergangenen Jahr täglich 41 ukrainische Soldaten starben. Eine enorme Zahl, die von vielen Seiten jedoch angezweifelt wird. Mit Verweis auf die wachsenden Friedhöfe werfen viele Ukrainer ihrem Präsidenten vor, viel zu niedrige Zahlen zu nennen.

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Als das »Wall Street Journal« im September 2024 von 80 000 getöteten ukrainischen Soldaten schrieb, reagierte Selenskyj erbost. Es seien »weitaus weniger«, sagte er damals. Zuletzt sorgte Trumps Ukraine-Beauftragter Keith Kellogg für Aufsehen. Kiew habe dreimal so viele Soldaten verloren wie die USA bei ihren Kriegen in Korea (36 000) und Vietnam (60 000) zusammen. Das wären mindestens 288 000 Tote. Die genaue Opferzahl wird man wahrscheinlich nie erfahren.

Wie sich der Krieg auf die Bevölkerung der Ukraine auswirkt, kann nur vermutet werden. Demografische Daten werden unter Verschluss gehalten. Nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat gab es im Dezember 2024 in der EU, der Schweiz und Liechtenstein 4,26 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Das ukrainische Zentrum für ökonomische Strategie spricht von 5,2 Millionen Menschen, die bis Ende Dezember 2024 das Land verlassen haben, 300 000 mehr als im Jahr zuvor. Verschiedene Umfragen zeigen, dass lediglich 30 bis 40 Prozent der Geflüchteten nach dem Krieg in die Ukraine zurückkehren wollen. Im »Welt«-Interview sprach der Minister für nationale Einheit, Oleksij Tschernyschow, von 32 Millionen Menschen, die noch in der Ukraine leben. Das Institut für Demografie und Probleme der Lebensqualität der Akademie der Wissenschaft prognostiziert bis 2051 sogar einen Bevölkerungsrückgang auf 25,2 Millionen Menschen.

Energieversorgung

»Die Kraftwerke arbeiten an der Grenze des Möglichen«, schrieb die ehemalige Energieministerin Olha Buslawez dieser Tage auf Facebook. Trotz der erneut intensiver werdenden russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur hat es die Ukraine geschafft, die Versorgung aufrechtzuerhalten.

Doch der Preis dafür ist hoch. Nachdem Kiew den russischen Gastransit gestoppt hat, kann man auch selbst nichts mehr aus den Pipelines entnehmen. Zudem wurden 40 Prozent der eigenen Gasförderung zerstört. Seit Februar muss die Ukraine deswegen Gas aus Europa importieren, zu europäischen Preisen. Unter anderem Reuters schreibt von 800 Millionen Kubikmeter, die bis Sommer importiert werden müssen. Für die nächste Heizsaison werden 13 Milliarden Kubikmeter benötigt.

Wirtschaft

Nach dem Schock der Invasion 2022 erholt sich die ukrainische Wirtschaft allmählich, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt immer noch gut 20 Prozent unter dem des letzten Vorkriegsjahres 2021 liegt. Der Bausektor, die verarbeitende Industrie und insbesondere der Export sorgen für einen leichten Anstieg. Die Ukraine ist vor allem auf den Export angewiesen. Schwächelt der, schwächelt die gesamte Wirtschaft. So wie im Januar, als das Wachstum lediglich 1,5 Prozent statt prognostizierter 2,7 Prozent betrug.

Zum Bild gehört auch: Das neue Jahr hat mit einer Insolvenzwelle von Privatunternehmern begonnen. Laut den Marktanalysten von YS Market waren die Konkursmeldungen fast dreimal so hoch wie die Neuregistrierungen. Gründe dafür sind neue Regelungen und Steuern, aber auch die sinkende Kaufkraft und die Mobilisierung. Viele Männer kommen aus Angst, auf der Straße weggefangen zu werden, nicht mehr zu Arbeit, neue Mitarbeiter sind nicht zu finden. Auch die Kunden bleiben aus Angst vor der Mobilisierung aus. Allerdings, so die Meinung von Experten, könnten viele Unternehmen illegal weitermachen. Die Angst vor der Mobilisierung und die Schattenwirtschaft sind auch Hauptgründe für die offizielle Arbeitslosenzahl von 94 200, was absolutes Minimum in der ukrainischen Geschichte ist.

Lebensverhältnisse

Die Schere zwischen Arm und Reich geht in der Ukraine weiter auseinander. Jeder dritte Ukrainer lebe in Armut, meldete die Weltbank im vergangenen Sommer. Gegenüber dem letzten Vorkriegsjahr stieg die Armutsquote um das 1,7-Fache.

Zudem stieg die Inflation im vergangenen Jahr auf zwölf Prozent und verteuerte damit vor allem Lebensmittel. Mittlerweile seien die Preise sogar höher als in Polen, meldeten ukrainische Medien.

»Der neue ukrainische Arme kann eine Eigentumswohnung und drei Mäntel haben, gibt aber fast sein gesamtes Einkommen für Essen aus«, beschrieb die Gastroexpertin Olha Nasonowa die Situation in einer Kolumne für »New Voice Business«.

Korruption

Alles laufe sauber ab, antwortete Selenskyj dem US-Sender Fox News, als der ihn vor einem Jahr auf Washingtons Bedenken bezüglich der Korruption in der Ukraine ansprach. Man befolge die Reformen, die von der Europäischen Union angemahnt wurden.

Ein Jahr später muss Selenskyj eingestehen, dass sich nicht viel getan hat. In seinem Telegram-Kanal warf er Anfang Februar »Schlüsselbehörden« vor, Milliarden Hrywnja veruntreut zu haben. Auch wenn die Anschuldigung ein politisches Statement war, zeigt sie, das Land hat die Korruption nicht im Griff. Kaum eine Woche vergeht ohne großen Skandal. Im aktuellen Korruptionswahrnehmungsindex liegt das Land auf Platz 105 und ist damit gegenüber 2023 leicht abgerutscht. Schuld daran sind unter anderem ausbleibende Reformen.

Mehr noch scheint die Korruption an Fahrt aufzunehmen. Selbst die Antikorruptionsbehörde muss zugeben, dass 69 Prozent der Menschen und 57 Prozent der Unternehmer im vergangenen Jahr eine Verschlechterung wahrgenommen haben. Lediglich drei Prozent der Menschen und zehn Prozent der Unternehmer sind der Meinung, dass die Korruption zurückgegangen ist.

Die anfälligsten Bereiche sind der Bausektor (44 Prozent), Medizin (28,6 Prozent) und die Sicherheitsbehörden (28,5 Prozent). Bei den beiden letztgenannten Bereichen dürften große Geldmengen für den Freikauf von der Armee fließen. Ukrainische Geschäftsleute beschweren sich vor allem über den Zoll (35 Prozent), öffentliche Versorgungseinrichtungen (32 Prozent) und die Sicherheitsorgane (28,5 Prozent).

Ausländische Unterstützung

Selenskyjs Angebot, Seltene Erden gegen Unterstützung zu verkaufen, wird seit Tagen heftig diskutiert. Dabei ist nicht einmal klar, was und wie viel genau aus dem ukrainischen Boden zu holen ist. Donald Trump gibt offen zu verstehen, dass die Zeit grenzenloser Hilfe vorbei ist und er die Unterstützungsgelder, die sein Land gezahlt hat, wiederhaben will.

Nach Angaben des Ukraine Support Trackers des Kieler Instituts für Weltwirtschaft unterstützten die USA die Ukraine im vergangenen Jahr mit 119,2 Milliarden US-Dollar, die EU mit 52,1 Milliarden und Deutschland mit 18,1 Milliarden. Das zeigt: ohne Washington geht es nicht. Sollten die USA ihre Gelder einstellen, würde die Ukraine maximal ein halbes Jahr durchhalten, sagte der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Generalstabs der ukrainischen Armee, Ihor Romanenko, auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Trotz großer Worte der Europäer zweifelt Romanenko an, dass sie eine wegfallende US-Unterstützung kompensieren könnten. Fest steht: Die Ukraine ist nach wie vor auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Die KSE spricht von 93 Milliarden US-Dollar in den kommenden drei Jahren.

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