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Estland macht seine Russen mundtot

Im Baltikum nutzen die Regierungen den Ukraine-Krieg, um die Rechte von Menschen aus Russland und Belarus einzuschränken

Vilnius ist das Zentrum der belarussischen Opposition. Doch Litauen macht den Menschen aus dem Nachbarland das Leben immer schwerer.
Vilnius ist das Zentrum der belarussischen Opposition. Doch Litauen macht den Menschen aus dem Nachbarland das Leben immer schwerer.

Mit einem Strich wurden in Estland über 140 000 Menschen ihrer politischen Teilhabe beraubt. Nachdem Ende März das Parlament des gerade einmal 1,3 Millionen Menschen zählenden baltischen Landes dafür gestimmt hatte, Einwohnern ohne estnischen Pass das Stimmrecht auf kommunaler Ebene zu entziehen, setzte Präsident Alar Karis die Verfassungsänderung nun in Kraft.

Das Präsidialamt erklärte, der Ausschluss solle »die Einheit der estnischen Gesellschaft schützen«. Die von der Verfassungsänderung Betroffenen – darunter die 78 000 in dem Land lebenden Russen – sollten sich aber nicht ausgeschlossen fühlen. Sie sollten auch nicht davon ausgehen, dass Estland sie »nur als Sicherheitsrisiko« ansehe, betonte das Präsidialamt.

Viel wert scheinen diese Worte nicht zu sein. Bereits vor der Parlamentsabstimmung wiesen oppositionelle Politiker darauf hin, dass Menschen mit russischem Hintergrund in Sippenhaft für das aggressive Verhalten der Regierung in Moskau genommen werden. Das Wahlverhalten der Minderheit habe in der Vergangenheit keine Hinweise geliefert, dass sie als Moskaus fünfte Kolonne agieren, wie Hardliner immer wieder behaupten. Estland ist gemeinsam mit den beiden anderen Balten-Republiken Lettland und Litauen einer der lautstärksten Unterstützer der Ukraine und fordert immer stärkere Maßnahmen gegen Russland und alles Russische. Im vergangenen Jahr tauchten auf den Straßen Sprachpatrouillen auf, die unter anderem die Beschriftung von Läden kontrollieren.

Der Entzug des Stimmrechts trifft allerdings auch andere Ausländer im Land. Gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Estnischen Rundfunk bezeichnete eine Ukrainerin, die seit elf Jahren in Estland lebt, die Entscheidung als »sehr bedauerlich und zutiefst undemokratisch«. Ein Kolumbianer glaubt, dass die Regierung auf diese Weise Integration eher behindere als fördere.

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Am Donnerstag unterstützte das Parlament Litauens die Verschärfung des Aufenthaltsrechts für Menschen aus Belarus und Russland. Die einwohnerreichste Balten-Republik will zukünftig keine nationalen oder Schengen-Visa mehr an Menschen aus den beiden Ländern ausstellen. Ausnahmen soll es nur geben, wenn das Innenministerium seine Erlaubnis erteilt. Außerdem sollen Menschen aus Belarus und Russland, die bereits in Litauen leben, ihre Aufenthaltserlaubnis verlieren, sollten sie mehr als ein Mal alle drei Monate in ihre Heimat reisen. Das Innenministerium behält sich vor, das Eigentum der Betroffenen zu konfiszieren, allerdings sind die Kriterien – außer den falschen Pass zu besitzen – noch unklar. Ausnahmen soll es für Familienbesuche und internationale Spediteure geben. Die Einschränkungen sollen zunächst bis 2030 gelten.

Die Entscheidung des litauischen Parlaments verwundert umso mehr, da das Land sich in der Vergangenheit als Zufluchtsort für Oppositionelle aus Russland und insbesondere Belarus, zu dem eine enge historische Bindung besteht, positioniert und aktiv um Verfolgte geworben hat. Viele Belarussen kamen nach den Protesten 2020 ins Land, die Russen folgten nach Beginn des Ukraine-Kriegs. Nun gehe man gegen Menschen vor, die den falschen Pass besitzen, äußert eine Initiativgruppe gegen die Gesetzesänderung gegenüber der »Nowja Gaseta. Baltija« ihr Unverständnis.

Viele Immigranten wurden und werden wegen ihrer politischen Aktivität gegen die Regierungen in ihren Heimatländern verfolgt. Zurückkehren können sie deswegen nicht mehr. In Litauen deutet die Politik ihren Aktivismus jedoch zunehmend als »Arbeit für den Feind«. »Das macht Angst«, heißt es von der Initiativgruppe, die festhält: »Die Menschen verlieren den Glauben an die demokratischen Prinzipien Litauens.« Und an eine Zukunft. Betroffene berichten, dass sie kaum einen Sinn darin sehen, Litauisch zu lernen, weil sie jederzeit ausgewiesen werden könnten. So weit will Estland nicht gehen. Aufenthaltserlaubnisse wolle man auch künftig nicht entziehen, versprach das Innenministerium.

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