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Alles mit Liebe

Generation Kplus: »Zirkuskind« von Julia Lemke und Anna Koch stimmt nachdenklich

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
»So was darf nicht vergessen werden«, sagt der Opa: »Nicht heute und nicht in tausend Jahren.«
»So was darf nicht vergessen werden«, sagt der Opa: »Nicht heute und nicht in tausend Jahren.«

So einen Urgroßvater wie Zirkusdirektor Georg Frank wünscht man jedem Kind! Seinem Urenkel Santino gibt er die wichtige Botschaft mit auf den Weg: »Man muss alles mit Liebe tun.« Auch der dritte Film des Badabum-Duos Anna Koch und Julia Lemke, zwei ehemaligen Studentinnen des dffb, wurde mit sichtlich viel Liebe und unkonventionellem Blick auf den Zirkusalltag gemacht.

Das titelgebende Zirkuskind Santino hat eine riesige Familie, auf die er immer zählen kann. Da sind natürlich erst einmal die Eltern des aufgeweckten Jungen, die Luftakrobatin Angie, die jedoch gerade ihr drittes Kind erwartet und solange am Boden bleibt, und sein multitalentierter Papa Gitano. Außerdem gibt es da noch seinen tierverrückten Bruder Giordano, Oma und Opa sowie unzählige Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Ihr Zusammenhalt und ihre gegenseitige Toleranz machen den ab sieben Jahren geeigneten Dokumentarfilm in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung auch zu einer berührenden Parabel über die Grundpfeiler menschlichen Zusammenlebens – für jede Altersliga.

Der in Jahreszeiten gegliederte und von Julia Lemke einfühlsam fotografierte Film beginnt im Frühling, an Santinos elftem Geburtstag. Endlich bekommt er das heiß ersehnte Motorcross-Bike, das vorsorglich auf 20 km/h herunter getunt wird. Unweigerlich muss man daran denken, wie viele Helikopter-Eltern ihrem Kind den Umgang mit einem solchen Geschenk wohl zutrauen würden. Auch in puncto Erlernen von Selbstwirksamkeit kann man von den Zirkusleuten lernen. So dürfen die Kinder beim Aufbauen auch schon mal den Vorschlaghammer schwingen oder in schwindelerregende Höhen klettern.

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Opa Ehe erzählt, wie Santino seinen geliebten Uropa nennt, von seinem ersten Auftritt in der Manege – im Alter von fünf Jahren. Dazu sehen wir eine von vielen augenzwinkernden Animationen von Magda Kreps und Lea Majeran, die ein wohliges Sendung-mit-der-Maus-Gefühl verbreiten. Der Opa schildert später auch, wie er seine Frau Isolde kennengelernt hat und von dem mächtigen Elefanten Sahib, den seine Familie einst besaß. Der wurde 52 Jahre alt und reiste als Sensation um die ganze Welt. Wenn Opa Ehe, der im Winter auch schon mal bei Sahib schlief, sagt, »es war einer von uns«, dann spürt man, dass das keine hohlen Worte sind. Tierdressuren im Zirkus werden heute kritisch gesehen, auch diesen Aspekt beleuchtet der Film kurz.

Zu Beginn des Films gibt der Großvater Santino zu verstehen, dass es langsam an der Zeit ist, sich zu überlegen, was er in der Manege zeigen möchte. Dessen Nachsinnen darüber zieht sich wie ein unsichtbarer Faden durch diese Doku, die von der Initiative »Der besondere Kinderfilm« gefördert wurde. Auch an Santinos Geburtstag heißt es wie jeden Abend: Manege frei. Santino und sein Bruder müssen selbstverständlich mithelfen, indem sie Zauberstäbe verkaufen und während der Vorstellung Handlanger-Aufgaben durchführen.

Das Zirkusleben zwischen Wohnwagen, Proben, Zeltauf- und -abbau und Fütterung der Tiere hat natürlich auch seine Schattenseiten: In jeder neuen Stadt muss der Junge sich wieder in der örtlichen Schule vorstellen und versuchen, Anschluss zu finden. Opa Ehe und Santinos Vater erzählen, dass sie zu ihrer Zeit in der Schule nichts gelernt haben und Zirkuskinder von den Lehrern oft wie Aussätzige behandelt worden sind. Das dicke Fell, das man sich gegenüber den Vorurteilen der Menschen zulegen muss, geben sie notgedrungen weiter. So erzählt Opa Ehe auch in kindgerechten Worten und entsprechenden Animationen von der Nazizeit, in der Juden, aber auch Sinti und Roma geächtet und verschleppt wurden. Seine Mutter, eine Sinti, mussten sich verstecken, die ganze Familie seines Schwagers wurde in Auschwitz ermordet. »So was darf nicht vergessen werden«, schließt der Opa seine Erinnerungen. »Nicht heute und nicht in tausend Jahren.«

Doch auch die Nazis konnten die 200 Jahre alte Tradition dieser Zirkusfamilie nicht beenden. Dem Uropa, Ehes Vater, gehörte einst der weltberühmte Circus Frankello, der in der DDR enteignet wurde, worüber man gern mehr erfahren hätte. Die Großfamilie floh in den Westen und Georg Frank gründete den Circus Arena, dem mit diesem sympathischen Film ein nachdenklich stimmendes Ehrendenkmal gesetzt wird.

»Zirkuskind«, Deutschland 2025, Regie: Julia Lemke und Anna Koch, 86 Min.
22.2., 16 Uhr Cubix 6 

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