- Kultur
- 100 Jahre Johannes Agnoli
Die richtigen Fragen
Johannes Agnolis Staats- und Parlamentarismuskritik ist deshalb theoretisch so stark, weil sie radikal vom politischen Problem aus dachte
Johannes Agnoli hat nicht viel geschrieben. Darüber sollte auch eine auf immerhin sechs Bände angewachsene und unvollendete Ausgabe seiner Schriften – sie ist nach einem Streit zwischen der Familie und dem Verlag schon lange aus dem Verkehr gezogen – nicht hinwegtäuschen. Ein Großteil der dort versammelten Texte geht auf Vorträge und Vorlesungen zurück. Trotz Verschriftlichung merkt man ihnen den mündlichen Charakter an.
Man mag über diese vermeintliche Schreibfaulheit spekulieren und sich dabei auf Biografisches stützen: Vielleicht unterwarf er sich als Genussmensch höchst ungern den Publikationszwängen seines akademischen Fachs. Oder es lag an der Schwierigkeit, sich zwischen zwei Sprach- und Kulturkreisen – dem Deutschen und dem Italienischen – zu bewegen (wenn Agnoli veröffentlichte, dann häufig zweisprachig). Und insbesondere in den Jahren nach 1968 zog es ihn zur Praxis, er diskutierte lieber mit italienischen »Gastarbeitern« in der BRD über die Perspektiven wilder Streiks, als am Schreibtisch politologische Ideengeschichte zu betreiben.
Staat als Klassenherrschaft
Der Umstand lässt sich aber besser immanent aufklären, anhand der Fragestellungen seiner Texte. Dabei handelt es sich nicht um ein philologisches Rätsel, sondern Agnolis Fragen hatten eine Dringlichkeit, die für jede sozialistische Bewegung von großer Relevanz geblieben ist. Die Probleme, die er als zentral markiert, lassen sich nur in der Praxis – der sozialistisch-revolutionären – klären. Zwar gibt Agnoli Antworten. Aber diese fallen kurz und aphoristisch aus, weil sie eine Handreichung für die Praxis sind.
In medias res: 1966 stellt Agnoli in der an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vorlesung »Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staat« – einem Schlüsseltext – die nicht suggestiv gemeinte Frage: »Ändert sich nicht – vom Staate her – der Charakter der bürgerlichen Gesellschaft, wenn denjenigen Mitspracherecht bei der Bestellung der Herrschaft eingeräumt wird, die nicht zur Gesellschaft der Eigentümer gehören und deren Vertreter möglicherweise den Staat als Instrument des Umsturzes und der Enteignung betrachten?« Wie kann es also sein, dass die Gesellschaft weiterhin unter die Herrschaft des Privateigentums und des Kapitals gezwungen bleibt, wenn doch die politische Instanz des Gemeinwesens – der moderne Staat – nicht nur keine Standesprivilegien mehr anerkennt, sondern gerade auch den bisherigen Subalternen die Möglichkeit einräumt, Mehrheiten zu erringen?
Der Staat ist Hüter und Garant durch das Privateigentum vermittelter sozialer Verhältnisse. Er ist ganz und gar abhängig vom Kapital.
Agnoli zeigt, dass der bürgerliche Staat seine Revolution bereits hinter sich hat. Jener versteht sich als Folge einer Revolution – die zuerst ökonomische, dann soziale, politische und kulturelle Durchsetzung des Bürgertums – und institutionalisiert sie: Die Revolution löst sich im Staat auf. In diese Ordnung integrieren sich, nach jahrzehnte- und jahrhundertelangen Kämpfen um Wahlrecht und Koalitionsfreiheit, schließlich die Proletarier und haben ihrerseits das Recht auf Repräsentation erlangt – aber nicht das auf Revolution.
Der bürgerliche Staat ist von Beginn an Hüter einer Ordnung, deren Gesetze der Profitmaximierung sich außerhalb des Staatswesens vollziehen. »Von Locke bis Röpke, von den Girondisten bis Erhard bleibt das Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft und somit das zu schützende Gut des bürgerlichen Staates (…) – das Eigentum«, sagt Agnoli. »Und das bedeutet, daß – selbst für die Jakobiner – der Staat der bürgerlichen Gesellschaft nur Klassenstaat sein kann, eigens geschaffen zur Sicherung der Klassenstruktur. Schutz des Privateigentums und Klassenherrschaft sind Synonyme.«
Gegen Adel und Arbeiter
Trotzdem könnte es doch sein, dass die revolutionäre Partei des Proletariats zur Wahl antritt und die Mehrheit erringt. Zumindest aus Sicht der Bourgeoisie hat es, platt gesagt, solche Situationen in der jüngeren Geschichte – etwa in Chile unter Salvador Allende – durchaus gegeben. Was ist dann? In seiner berühmt gewordenen Schrift »Die Transformation der Demokratie« von 1967 geht Agnoli der Frage nach, warum dieser Fall nicht eintreten wird – und wenn er einträte, dann wäre es für die revolutionäre Partei bereits zu spät und sie wäre mit ihrer baldigen Entmachtung konfrontiert.
Als zentrale Momente der verhinderten Emanzipation gelten Agnoli: »die Verwischung der politischen Unterschiede, die ›Versachlichung‹ der Politik im Zweiparteienstaat, die ›Sozialpartnerschaft‹, Vertauschung von Funktion und Position (›Wir sitzen alle in einem Boot‹, wobei es keine Rolle spielen soll, ob am Ruder oder als Steuermann) und Individualmobilität, welche die kollektiven Aufstiegsimpulse neutralisiert und der altliberalen Ideologie von der freien Bahn des Tüchtigen zu neuer Würde verhilft.« Mit dem Ergebnis, dass »aus dem Herrschaftskonflikt der Klassen ein Führungskonflikt der Oligarchien geworden ist, nachdem die Führungsgruppen der Arbeiter ins System bürgerlicher Herrschaft eingebaut sind«. Das Bewusstsein, Staatsbürger zu sein, reicht nun bis in die untersten Schichten der Gesellschaft hinein. Das ist gelungene Integration! Der bürgerliche Staat wird zum Volksstaat und konstruiert sich in doppelter Frontstellung: gegen den Adel und gegen den Druck der Plebejer von unten.
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Agnoli besteht darauf, dass der Staat auch als Volksstaat – oder besser: gerade als Volksstaat – nur eine abgeleitete Größe ist. Wie gesagt, er ist Hüter und Garant durch das Privateigentum vermittelter sozialer Verhältnisse, die außerhalb des Staates liegen. Damit ist er ganz und gar abhängig vom Kapital. Diese schlichte Feststellung erweist sich in der gesellschaftlichen Realität als höchst verwickelt.
In seinen Studien der 70er Jahre geht es Agnoli nun um den »widersprüchlichen Sachverhalt (…), daß einerseits der Staat nichts, das Kapital alles ist; daß aber andererseits in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern die radikale Umwerfung unmenschlicher Produktionsweise weniger an der Machtvollkommenheit des Kapitals als an den konterrevolutionären Mechanismen und Techniken des kapitalistischen Staats scheitert«. Das ist sein Rückblick auf die Aufstände von 1968/69, die – selbst in der BRD! – wesentlich von wilden Streiks geprägt waren: »Das Einzelkapital läßt sich schlagen; dahinter bleibt aber das (…) politische Machtsystem, das praktisch das schon geschlagene Kapital retten kann. Fiat war im Herbst 1969 am Ende, der italienische Staat noch lange nicht.«
Analyse statt Wunschdenken
Es reicht nicht, »nur« die Transformation der Demokratie (die Integration vormals rebellischer Proleten ins System durch die politische Zerstäubung des Klassenantagonismus) zu durchblicken, es geht Agnoli darum, die Logik des Staates zu begreifen. Weil sich erst dann die »Logik des Klassenkampfes«, auf die er eigentlich hinauswill, negativ abzeichnet: als vollständige Entkopplung von staatlich-demokratischen Verkehrsformen und Vermittlungsversuchen.
Weil Staat und Kapital in getrennten Sphären agieren, kann der Staat den Anspruch verkörpern, die gesamte Ordnung zu repräsentieren, sie zu erhalten, an neue Gegebenheiten anzupassen, sogar zu reformieren. Kein Kapital, und sei es auch noch so monopolistisch mächtig, vermag das aus eigener Kraft. Daher rührt auch der Anschein politischer Autonomie gegenüber dem Kapital: ein Anschein, der in Realität umschlagen kann, wenn der Staat einen Mindestlohn festlegt, sich also direkt in das Kapitalverhältnis einmischt – freilich um es zu bestätigen. Agnoli folgerte daraus, dass der Klassenkampf unmittelbar politisch geführt werden muss. Das ist bei ihm keine Forderung, sondern eine Einsicht. Er sah sich durch die Klassenkämpfe nach 1968 bestätigt, sie stießen ihn überhaupt erst auf die Analysen zum »Staat des Kapitals«.
Und heute? Man liest den Agnoli der 60er und 70er Jahre als Klassiker anarchistisch-marxistischer Staatskritik. Beabsichtigt hatte er das nicht, und es wäre ihm bitter aufgestoßen, dass wir uns 2025 immer noch an seinen 50, 60 Jahre zuvor aufgeworfenen Fragestellungen abarbeiten. Im Einzelnen ist der Abstand zwischen seinen Thesen und unserer Situation groß – eine Allianz wie die zwischen Trump und Musk hätte er sich nicht vorstellen können, zu vulgär wäre ihm das Bild vorgekommen. Aber in der vermeintlichen Unübersichtlichkeit unserer politischen Lage hilft es, mit den einfachen Fragen Agnolis und ihren unverblümt radikalen Konsequenzen neu zu beginnen.
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