Linke mit über acht Prozent im Bundestag

Die Linke konnte ihre Zustimmungswerte innerhalb weniger Wochen verdoppeln – die Gründe dafür gehen weit über Views, Likes und Heidi Reichinnek hinaus

Die Spitzenkandidaten der Partei Die Linke Jan van Aken (l), Bundesvorsitzender, und Heidi Reichinnek beim Wahlkampffinale unter dem Motto »Alle wollen regieren, wir wollen verändern«.
Die Spitzenkandidaten der Partei Die Linke Jan van Aken (l), Bundesvorsitzender, und Heidi Reichinnek beim Wahlkampffinale unter dem Motto »Alle wollen regieren, wir wollen verändern«.

Gerade noch war die Linkspartei totgesagt, quasi das gesamte Jahr 2024 dümpelte sie in Umfragen bei um die drei Prozent. Jetzt zieht sie laut ersten Prognosen am Wahlabend mit acht oder neun Prozent in den Bundestag ein. »Die Linke lebt«, verkündete der Ko-Vorsitzende Jan van Aken in seiner Siegesrede. »Und Friedrich Merz kann sich warm anziehen.« Der CDU-Chef hatte am Vorabend linke Politik für beendet erklärt.

Statt einem Ende bedeutet dieses Bundestagswahlergebnis zumindest für die linkeste der linkeren Parteien nicht nur die Überlebensgarantie, sondern eine echte Zukunft. Wie konnte es also dazu kommen, dass die Partei in nur so kurzer Zeit ihr Ergebnis verdoppelte? Wer auf diese Frage eine Antwort sucht, findet in diversen Medien immer wieder dieselbe Erklärung: Der Tiktok-Hype um die Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek und kultige Gregor-Gysi-Memes seien für den plötzlichen Erfolg verantwortlich.

29 Millionen Mal ist die empörte Rede von »Heidi« nach dem gemeinsamen Votum von CDU und AfD im Bundestag auf den verschiedenen Plattformen angesehen worden. Seit Beginn des Jahres konnte die Linkspartei ihre Instagram-Follower verdoppeln, ihre Follower auf Tiktok sogar verfünffachen. Das geht aus Dokumenten der Linkspartei hervor, die dem »nd« vorliegen.

Dieser massive Reichweitenzuwachs in den sozialen Medien hatte mit Sicherheit einen Einfluss auf das Wahlergebnis – insbesondere bei jungen Menschen. Dies aber als alleinige Erklärung für den Wahlerfolg der Linken heranzuziehen, wäre stark verkürzt.

Zwei Alleinstellungsmerkmale auf dem Silbertablett

Beginnen wir mit den externen Faktoren. Die direkte Konkurrenz, SPD und Grüne, servierten der Linken in den Wochen vor der Wahl gleich zwei Alleinstellungsmerkmale auf dem Silbertablett: ihre Migrationsposition und ihr Fokus auf Sozialthemen.

Nach dem gemeinsamen Votum zwischen CDU und AfD im Bundestag versuchten Olaf Scholz und Robert Habeck zwar, durch Empörung über Merz’ Tabubruch eine Distanz zwischen sich selbst und den Konservativen herzustellen. Nur haben beide kurz darauf trotzdem klargemacht, dass sie mit Merz regieren wollen. Und um dessen Gunst in der Koalitionspartnerwahl zu buhlen, signalisierten SPD und Grüne in Richtung CDU, dass auch sie Migration als ein Problem ansehen, das es zu beheben gelte – durch mehr Abschiebungen und mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden.

Viele Wähler*innen werden deshalb in SPD und Grünen keine glaubwürdig linke Alternative zu Merz mehr gesehen haben. Auch das Argument, Rot-Grün wolle Merz trotz seines bewussten Brandmauerbruchs zum Kanzler machen, wird bisherige Wähler von SPD und Grünen zum Linke-Wählen bewegt haben. Denn obwohl die Linkspartei ihre Migrationspositionen ursprünglich gar nicht in den Vordergrund rücken wollte – man hatte sie in einer Wähleranalyse als potenzielle Verlustpositionen identifiziert –, nun, da die Migrationsfrage nach den Attentaten von Aschaffenburg, Magdeburg und München in den Vordergrund gerückt wurde, stand die Linkspartei eben als die einzige der größeren Parteien da, die sich dem an vielen Stellen rassistischen Diskurs entgegenstellte.

Mieten, kaufen, wohnen

Das zweite Alleinstellungsmerkmal, von dem die Linke profitieren konnte, war ihr Fokus auf Mieten- und Preispolitik – eine Strategie, die sich die neue Parteispitze um Ines Schwerdtner und Jan van Aken von der österreichischen KPÖ abgeschaut hatte. Während die Mitte-Parteien nur noch über Migration redeten, konnte diese Strategie besonders gut fruchten. Die Linke konnte sich so als einzige Partei profilieren, die sich um die Themen kümmert, die viele Menschen schlichtweg als die wichtigsten Sorgen in ihrem Leben einschätzen.

Unterstützt wurde der Mietenwahlkampf durch digitale Tools, die die Linkspartei eigens entwickelte. Mit der Seite mietwucher.app können Mieter*innen in Berlin, Dortmund, Erfurt, Freiburg, Hamburg, Hannover, Leipzig und München gegen zu hohe Mietpreise vorgehen. Der Heizkostencheck, bei dem Mieter ihre Heizkostenabrechnung hochladen und maschinell auf Abrechnungsfehler überprüfen lassen können, hat in Berlin dazu geführt, dass Mieterversammlungen für ganze Wohnblocks organisiert werden konnten, um gemeinsam gegen überhöhte Preise vorzugehen. So konnte die Linkspartei in den Augen vieler offenbar wieder das Image als Kümmererpartei zurückgewinnen.

Eine halbe Million Haustüren

28 000 Neumitglieder konnte die Linkspartei seit Beginn des Jahres gewinnen – aufgrund einer ohnehin aktiven Parteibasis, aufgrund der inhaltlichen Alleinstellungsmerkmale und aufgrund des Tiktok-Hypes um Heidi Reichinnek und der insgesamt deutlich verbesserten Social-Media-Arbeit der Partei. Die Linke zu unterstützen, ist plötzlich unter jungen Menschen wieder cool. In Massen strömten sie in den vergangenen Wochen zu den Wahlkampfveranstaltungen, als handele es sich um ein Konzert einer Teenie-Band, die gerade angesagt ist.

Noch wichtiger ist: Ein Teil dieser begeisterten Massen konnte vielerorts auch für den Haustürwahlkampf mobilisiert werden. Als man in der Linken noch von einer turnusmäßigen Wahl im September ausging, sollten zur Vorbereitung des Wahlprogramms 100 000 Haustürgespräche geführt werden. Im Wahlkampf mit vorgezogenem Wahltermin wurde dieses Instrument massiv ausgeweitet, insbesondere in Wahlkreisen, in denen ein linkes Direktmandat möglich war. Laut Angaben der Partei hat die Linke deutschlandweit an über 550 000 Haustüren geklingelt.

Die Fokussierung auf dieses Instrument ist intern zwar umstritten und die Wirksamkeit ist kaum seriös zu messen, dennoch ist einleuchtend, dass es eine Wirkung hat, wenn in manchen Wahlkreisen Wahlkämpfer der Linken an mehr als jeder zweiten Wohnungstür geklopft haben.

Jeder nach seinen Fähigkeiten

Glaubt man der Berichterstattung, hat Heidi Reichinnek quasi im Alleingang die Linkspartei gerettet. Der neue Linke-Superstar spricht aber vor allem sehr junge Menschen ein – darunter auch viele Nichtwähler*innen. Worauf es wirklich ankam, war eine strategisch kluge Arbeitsteilung in der Linke-Spitze, die ganz nach dem Marx’schen Motto »Jeder nach seinen Fähigkeiten« funktioniert.

Jan van Aken wurde in alle Talkshows der Republik geschickt – vor der Kamera funktioniert er gut und konnte mit seiner freundlich-frechen Hamburger Art die ältere Generation erreichen. Heidi Reichinnek war für Social Media zuständig und Ines Schwerdtner für Wahlkampf »on the Ground«. Dass sie dafür ein Talent hat, konnte sie schon vor den Europa- und Landtagswahlen im Osten unter Beweis stellen.

Die seit Oktober amtierenden Vorsitzenden van Aken und Schwerdtner haben also die Kehrtwende gemeistert, die der Partei erst einmal das Überleben sichert. Ob sie den Hype um die Linke in eine nachhaltige und langfristige Aufwärtsentwicklung umwandeln können, wird sich erst im Laufe der nächsten Monate zeigen und maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, die vielen jungen und oft politisch unerfahrenen Neumitglieder langfristig in die Parteistrukturen zu integrieren.

nd.Digital am Wahlabend kostenlos lesen
Lesen Sie im Verlaufe des Wahlabends Analysen und Reportagen zur Bundestagswahl kostenlos in unser App nd.digital. Zudem gibt es in unserer aktuellen Wochenzeitung: nd.DieWoche weitere Hintergründe zum Urnengang, die ebenfalls frei lesbar sind.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.