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Wählerwanderung: Die alte und die neue Bundesrepublik

Die Union und Die Linke gewannen dank Ex-Wählern der Ampel-Parteien hinzu, die AfD durch frühere Nichtwähler

Nicht alle erinnern sich noch, wen sie 2021 gewählt haben – oder wollen sich daran erinnern
Nicht alle erinnern sich noch, wen sie 2021 gewählt haben – oder wollen sich daran erinnern

Es ist fast wie in der alten Bundesrepublik: Als vor Jahrzehnten noch drei Parteien den Bundestag füllten, kam es immer dann zu Veränderungen in der Regierung, wenn viele Wähler von der einen zur anderen Volkspartei wechselten. Bei der aktuellen Bundestagswahl wollten knapp 1,8 Millionen Bundesbürger, die im Jahr 2021 noch ihr Kreuzchen bei der SPD gemacht hatten, diesmal die Union siegen sehen. Dieser mit Abstand dickste Block bei den deutschlandweiten Wählerwanderungen zwischen den Parteien brachte mit ziemlicher Sicherheit die Entscheidung in der Frage, wer der nächste Kanzler wird.

Die Wanderungsgrafiken sind seit vielen Jahren bei den TV-Wahlabenden beliebt. Das hat Gründe: Die Daten liegen fast zeitgleich mit den ersten Hochrechnungen vor, denn sie beruhen auf Umfragen privater Meinungsforschungsinstitute vor den Wahllokalen. Zudem werden Wanderungen angesichts der generell schwindenden Gruppe der Stammwähler politisch immer relevanter. Und die Vielzahl an Pfeilen erlaubt es Moderatoren wie Politikern, alle möglichen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Allerdings sind diese recht dubios, da nicht nach den Motiven für eine veränderte Wahlentscheidung gefragt wird: Haben sich die Einzelnen für oder gegen jemanden entschieden, haben sie taktisch oder nach einer spontanen Laune gewählt? Auch die Ergebnisse der Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen, denn das methodische Verfahren der Wählerstromanalyse ist selbst bei Statistikern umstritten: Viele der Befragten haben eine falsche Erinnerung an die Jahre zurückliegende Wahl, oder sie wollen sich lieber nicht daran erinnern. Studien gehen davon aus, dass daher 15 bis 30 Prozent der gegebenen Antworten nicht korrekt sind. Da es sich um keine valide Messung handele, sollten die Daten nicht mehr so prominent veröffentlicht werden, erklärte Tim Tschapek von der TU Dresden schon vor einigen Jahren. Statt einzelne Zahlen zu zeigen, wäre es sinnvoller, »Kategorien wie ›sehr starke Wählerwanderung‹ oder ›niedrige Wählerwanderung‹ anzulegen«.

Unter den sehr starken Wanderungen gibt es einen Block, der noch leicht vor der von SPD zu Union liegt: Gut 1,8 Millionen Nichtwähler zog es laut den Daten von Infratest Dimap neu zur AfD – und das ist der wohl gewichtigste Teil der neuen Bundesrepublik. Eine hohe Wahlbeteiligung, die früher als Abwehrmittel gegen kleine ultrarechte Parteien galt, wirkt offenkundig nicht mehr. Erneut lockte besonders die zumindest in Teilen als gesichert rechtsextremistisch eingestufte Partei besonders viele Unzufriedene an, die sich zuvor keiner anderen Partei zugehörig fühlten. Nennenswert, aber deutlich schwächer erfolgreich bei der Mobilisierung von vorherigen Nichtwählern waren die Union (900 000) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (400 000).

Der dritte große Block macht die Erosion der FDP anschaulich. Das zeitweilige Ampel-Mitglied verlor 1,35 Millionen Stimmen Richtung Union und 0,9 Millionen Richtung AfD.

Dass die Union trotz großer Zugewinne bei Ex-SPD- und Ex-FDP-Wählern alles andere als ein strahlender Sieger war, liegt offenkundig nicht nur am insbesondere bei Frauen unbeliebten Kanzlerkandidaten. Rund eine Million zuvor christdemokratische oder christsoziale Wähler gaben diesmal der AfD ihre Stimme. Ob das trotz oder wegen des kürzlichen gemeinsamen Agierens mit den Ultrarechten im Bundestag der Fall war oder ob dies keine Relevanz hatte, wäre eine spannende Frage. Friedrich Merz und seine auf Regierung getrimmten Kollegen bei CDU/CSU stellen sich diese nicht – die Ankündigung am Wahlabend war ja: kurz feiern und sich dann gleich an die Arbeit machen.

Schließlich erklärt die fünfte »sehr starke Wählerwanderung« das überraschend gute Ergebnis der Linken: Man gewann sehr viele Stimmen von Grünen und SPD dazu, zusammen immerhin knapp 1,3 Millionen, die ihre vorherigen Favoriten für nicht mehr glaubwürdig halten. Nur gut ein Viertel dieser Anzahl wanderte von der Linken zur BSW – der Mutterpartei hat die Abspaltung nicht geschadet, eher im Gegenteil. Wie stark das alles mit den jüngsten Massendemos gegen rechts zusammenhängt, geben die Wanderungsdaten natürlich nicht her. Dafür aber diese Schlussfolgerung: Soll das gute Ergebnis nicht ein Ausreißer auf Grundlage eines gewissen Zufalls bleiben, dürfte es eine klare Mitte-links-Oppositionsarbeit ohne Wenns und Abers benötigen.

Das BSW wiederum hat sich offenkundig verkalkuliert – dass man sich vom Wahlsystem oder von Medien schlecht behandelt fühlt, kann nicht erklären, warum nur ein relativ kleiner Teil der bisherigen Linke-Wähler hier sein Kreuzchen machte. Mit diesem Urnengang dürfte nun auch die Behauptung widerlegt sein, AfD-Wähler seien nicht alles Nazis und könnten mit entsprechendem inhaltlichen Angebot zurückgeholt werden: Lediglich 60 000 Ex-AfD-Wähler wechselten zum BSW – eine Zahl, die angesichts der statistischen Ungenauigkeit der Wählerstromanalyse jenseits des Signifikanten liegt.

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