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Ganz Deutschland FSME-Risikogebiet
Mit der ganzjährigen Aktivität von Zecken häufen sich die FSME-Infektionen
Zecken in Deutschland könnten zu den Gewinnern des Klimawandels gezählt werden. Die am meisten verbreitete Art, der Gemeine Holzbock, ist auch jetzt schon wieder munter unterwegs. »In der letzten Woche konnten wir innerhalb von 20 Minuten – noch zwischen Schneefeldern – etliche Exemplare sammeln«, berichtet Gerhard Dobler. Der Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie leitet das Nationale Konsiliarlabor für Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München.
Es ist aber weniger die ganzjährige Aktivität der zur Unterklasse der Milben gehörenden Parasiten, die den Medizinern Sorgen macht. Sondern eher das von ihnen übertragene FSME-Virus, das in Deutschland schon recht weit über einschlägige Risikogebiete im Südwesten hinaus verbreitet ist. Die virustragenden Teilgruppen der Zecken sind nämlich immer häufiger anzutreffen. Zudem würden zum Thema vorhandene Risikokarten des Robert-Koch-Instituts (RKI) häufig falsch interpretiert, so Dobler: »Es handelt sich hier eigentlich um Inzidenzkarten«, also darum, wo wie viele FSME-Fälle je 100 000 Einwohner gemeldet wurden.
»Über mehrere Jahre gesehen kam es hier bei 80 Prozent der gemeldeten FSME-Fälle zu Krankenhausaufenthalten von sieben bis acht Tagen.«
Gerhard Dobler Facharzt für Mikrobiologie
Die Frühsommer-Meningoenzephalitis ist also eine Virusinfektion. Die absoluten Fallzahlen muten eher niedrig an: In Deutschland waren es 2024 bundesweit 686 vom RKI bestätigte Fälle, die zweithöchste Zahl seit Beginn der Meldepflicht 2001. Gemeldet wurden noch etwa 10 Prozent mehr, allerdings entsprachen diese Fälle nicht bei allen Kriterien der RKI-Referenzdefinition.
Harmlos verläuft die Infektion aber nicht immer. Nach einer symptomfreien Zeit von bis zu einer Woche kann es zu Entzündungen der Hirnhäute, des Gehirns oder auch des Rückenmarks kommen. Das zeigt sich etwa durch rückkehrendes Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen sowie in Ausfällen des Nervensystems.
Für Baden-Württemberg, eines der deutschen FSME-Hochrisikogebeite, fasst Dobler die Folgen so zusammen: »Über mehrere Jahre gesehen kam es hier bei 80 Prozent der gemeldeten Fälle zu Krankenhausaufenthalten von sieben bis acht Tagen. 10 Prozent dieser Patienten wurden intensivpflichtig. Bei der Hälfte blieben längere Schäden der Muskulatur und des zentralen Nervensystems.«
Ein Prozent der Erkrankten stirbt an der Infektion. Die gute Nachricht hingegen: Eine folgenlose Heilung ist spät im Verlauf noch möglich. Außerdem bleibt die Mehrheit der Infizierten, nämlich bis zu 95 Prozent, beschwerdefrei.
Auch weil die ersten Symptome – wenn sie denn auftreten – relativ unspezifisch sind, ähnlich wie bei Grippe, gibt es vermutlich eine hohe Dunkelziffer bei den Infektionen. Nicht jeder geht mit Fieber, Gliederschmerzen und einem allgemeinen Krankheitsgefühl sofort zum Arzt. Und auchÄrzte haben eine mögliche FSME-Virus-Infektion nicht immer im Blick.
Wie sieht es nun mit dem Schutz vor der Krankheit aus? Wer in den ausgewiesenen Risikogebieten, vor allem im Südwesten Deutschlands, wohnt und sich viel in der Natur aufhält, dem ist eine Impfung empfohlen. Der Schutz der Impfung liegt laut Dobler bei 95 Prozent. Der Virologe hält sie jedoch über die RKI-Empfehlung hinaus für angeraten: nämlich für alle Personen, die Kontakt mit der Natur haben, »und wenn es nur der Garten ist«, und durchaus in ganz Deutschland. Für einschlägige Berufsgruppen gelte das ohnehin, etwa für Förster und Waldarbeiter.
Die Impfempfehlung laut Dobler ist also immer mit einer individuellen Einschätzung des Verhaltens verbunden. So könnten auch leidenschaftliche Pilzsammler die Immunisierung erwägen. Die schützt nur individuell, weil FSME nicht von Mensch zu Mensch übertragen wird. Sie muss in längeren Abständen aufgefrischt werden. Andere Maßnahmen könnten sein, in Feld und Wald lange Hosen zu tragen und sich nach Aufenthalten in der Natur gründlich abzusuchen.
Eine hohe Dunkelziffer bei den Infektionen ergibt sich auch daraus, dass FSME-Antikörper in der Forschung viel häufiger gefunden wurden als erwartet. Im Ortenaukreis im Westen Baden-Württembergs wurden Proben von Blutspendern daraufhin untersucht. Es konnte zwischen Antikörpern aus einer Impfung und solchen aus einer Infektion unterschieden werden. Obwohl hier regional eher häufig geimpft wird, zeigte sich das Infektionsgeschehen um ein Siebenfaches höher als vor 40 Jahren, bevor die Impfung eingeführt wurde.
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Ähnliche Daten sind aus Österreich bekannt: Obwohl hier sogar 80 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, steigen die Fallzahlen. Die Blutspenden-Untersuchungen werden darum ausgeweitet. Laut Dobler zeigt sich auch im Fall dieses Virus, dass Ungeimpfte ein erhöhtes Infektionsrisiko haben. In einigen Regionen in Tirol und Vorarlberg hat jeder achte Ungeimpfte eine FSME-Infektion durchgemacht.
Wer Zecken und FSME aus dem Weg gehen will, aber trotzdem gern im Freien ist, der hat eher schlechte Karten. Parasitologin Ute Mackenstedt von der Universität Hohenheim in Stuttgart erklärt, warum: »Die Tiere sind bereits ab fünf Grad Celsius aktiv. Und Temperaturen bis zu minus sieben Grad können sie problemlos für einige Tage aushalten.« Hinzu kommt, dass FSME-infizierte Zecken in immer neuen Gebieten auftauchen. Die Bewegungsrichtung in Europa geht dabei von Ost nach West: So wurde ein Virusstamm aus Polen zunächst in Sachsen-Anhalt, später in Niedersachsen und dann in den Niederlanden nachgewiesen.
Forschungsbedarf gibt es weiterhin, weil die Zahl der FSME-Infektionen bei Menschen in jedem zweiten Jahr etwas höher ist als im Jahr zuvor. Die Phasen könnten mit unterschiedlichen Populationsgrößen von Nagetieren zusammenhängen. Letztere benötigt das Virus ebenfalls zu seiner Arterhaltung und Ausbreitung. »Die Zecken sind also nur ein Rad im ganzen Übertragungsgetriebe«, erklärt der Virologe Dobler. Die Zusammenhänge sind allerdings komplex und bisher nur im Ansatz verstanden.
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