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Tagebuch aus Israel: EIN LAND WIE EINE SCHAUKEL
Die Journalistin Miriam Sachs ist für »nd« in Israel unterwegs – und schildert hier ihre Eindrücke
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13. Februar 2025: Ich hab meinen Koffer wieder. Jemand hatte ihn für mich beim letzten Mal aufbewahrt. Aber meine eigenen Sachen, die ich zurücklassen musste im Oktober 2024, sind weg. Ein zu warmer Pullover, Geld und ein paar Last-Minute-Einkäufe für die Familie von Qais, den verletzten Sohn meines Freundes Deeb. Vitamintabletten und auf ausdrücklichen Wunsch: Badelatschen. Die braucht man in Gaza, wenn man nur ein öffentliches Zelt mit schlammigem Boden und einem Loch für die Notdurft hat.
Tel Aviv, Strand. Ich nehme ein Selfie auf und winke in die Kamera. Ein IDF-Soldat mit Maschinengewehr auf einer Schaukel im Hintergrund denkt, ich winke ihm zu. Überraschender Zufallskontakt. Roi (22) ist sich der Absurdität des Bildes nicht bewusst. Waffenruhe hin oder her. Ab Samstag wieder Krieg? Wer weiß?! Er sitzt auf einer Schaukel. Die Waffe schaukelt mit. Er sagt, das sei der Normalzustand, in dem sich das Land nun mal befinde. Man könne nicht auf Momente »zwischen allem« verzichten. Verpflichtet, die Waffe immer bei sich zu tragen, sei er aber nun mal.
Miriam Sachs ist Autorin und Theatermacherin. Ihre Arbeit brachte sie immer wieder nach Gaza. Als im August 2024 der neunjährige Sohn ihres Kollegen Deeb von einer Drohne angeschossen wurde, versuchte sie vergeblich, das Kind zur Behandlung nach Deutschland zu bringen. Ebenso wenig hatte ihr Versuch Erfolg, einen Koffer mit Hilfsmitteln nach Gaza zu bringen. Nun ist sie für einige Wochen wieder in Israel unterwegs – nicht nur, aber auch, um den rosa Rollkoffer doch noch an sein Ziel zu befördern. Für »nd« führt sie ein Tagebuch.
Das sei anfangs ungewohnt gewesen, inzwischen fühle er sich eher nervös, wenn er die MG mal nicht bei sich habe. War ein halbes Jahr in Gaza und sagt, es gebe nicht nur Terroristen dort, er wisse es, denn er sei Übersetzer bei der Armee gewesen. Das sei vielleicht »weitreichender« als Waffen. Er habe viel gehört von der anderen Seite.
Ich hatte lange kein behutsames Gespräch wie dieses, und das ausgerechnet mit jemandem von der Armee! Ein Augenblick ohne »Boots on the ground«. Umso ernüchternder endete es.
»Ich sehe keine andere Möglichkeit: Es müssen alle raus aus Gaza. Nach alldem kann es keinen Frieden geben.«
»Alle?«
Frage ihn, ob er davon gehört hat, dass man angeblich (pro Tag!) um die 50 Hamas-Mitglieder (plus je drei Begleiter) aus Gaza ausreisen lasse, zum Beispiel in die Türkei. Er habe nichts davon gehört, sagt er, aber es würde ihn nicht wundern, wenn dem so sei. Es sei nun mal »The best we can do – besides killing them« – wenn wir sie nicht besiegen können, dann sei es besser, sie sind »irgendwo anders«. Hauptsache, nicht in Gaza, nicht so nah an Israel.
Und weg ist dann weg?
Hochschaukelnde Gefühle. Gut, meinetwegen soll Hamas weg. Meinetwegen massenweise. Aber Kranke, die auf Transfer und Behandlungen warten, werden nicht rausgelassen? Und diejenigen in Gaza, die bleiben wollen, müssen sich von Donald Trump anhören, er werde jetzt Gaza übernehmen. Die Leute störten da, man wolle sie auch nicht nach einer Neustrukturierung der Region.
Nach 16 Monaten Krieg, in dem fast alle Menschen in Gaza alles verloren haben, soll man also noch das Letzte aufgeben, was man hat? Nachdem man über ein Jahr nicht vom Fleck konnte, obwohl man gerne vor den Raketen auf und davon gewesen wäre, koste es was es wolle. Und jetzt, wo die Waffen schweigen, ist man plötzlich im Weg?
»Ist das die Lösung? Alle müssen weg?«
Es gehe nicht anders, sagt Roi. Und es tue ihm leid.
AM SAMSTAG LÄUFT DAS ULTIMATUM AB. Wenn dann nicht die nächsten israelischen Geiseln von der Hamas freigelassen werden – wie angedroht –, dann könnte Israel die Kämpfe wieder aufnehmen.
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