- Politik
- Krankheit und Heilung
»Unser Kind hat Krebs«
Die Diagnose eines Tumors oder von Leukämie bei Kindern ist ein Schock für die Familie. Wie gehen sie damit um?
An seinem dritten Geburtstag sitzt der kleine Leonard neben seinem Vater auf dem Gummiboden des Spielbereichs in der Wartehalle des Westdeutschen Protonentherapiezentrums in Essen. Die beiden bauen einen Turm aus Holzklötzchen. Leonard hat Krebs. In wenigen Minuten wird er seine zehnte Bestrahlungsbehandlung erhalten. Vor anderthalb Jahren entdeckte ein Radiologe in seinem Kopf ein Ependymom, einen Tumor des zentralen Nervensystems. Leonards Vater, Gabriel Ilie, erinnert sich noch gut an den ersten Schock: »Mein Sohn war sehr schwach auf den Beinen. Manchmal ist er einfach umgekippt. Verschiedene Ärzte haben ihn untersucht. Dann wurde eine Tomografie von seinem Kopf gemacht. Drei Stunden später erfuhren wir, dass unser Junge einen mandarinengroßen Tumor am Kleinhirn hat.«
Der Diagnoseschock
Die häufigsten Warnsignale für eine Krebserkrankung im Kindesalter sind Schmerzen in den Knochen, Blässe und Fieber, aber auch Gleichgewichtsstörungen und Schwellungen der Lymphknoten am Hals, unter den Armen oder im Leistenbereich. Im Durchschnitt entwickeln zwei von 1000 Kindern einen Tumor oder eine Leukämie. Dank medizinischer Fortschritte sind die Heilungschancen bei Tumorerkrankungen oder Leukämien in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Heute können etwa 80 Prozent der Betroffenen erfolgreich behandelt werden. Trotzdem denken viele Menschen bei dem Wort Krebs noch immer zuerst an Leiden und Tod.
»Ich bin erst mal zusammengesackt«, erinnert sich Gabriel Ilie. »Aber nach einer Weile habe ich tief durchgeatmet und mir gesagt: Jetzt musst du funktionieren. Und dann bin ich losmarschiert. Ich habe nicht nach links und rechts geschaut, sondern immer den Heilungsprozess im Auge behalten.«
Der selbstständige Gastronom Gabriel Ilie lebt mit seiner Familie in München. Doch er musste sich deutschlandweit umschauen, um die besten Behandlungsmöglichkeiten für seinen Sohn zu finden. Der erste Eingriff fand im Universitätsklinikum Würzburg statt. In einer 17-stündigen Operation konnte der Tumor zunächst erfolgreich entfernt werden. Doch ein Jahr später entdeckten die Ärzte Metastasen in Leonards Kopf und Rückenmark und rieten diesmal zu einer Kombination aus Strahlen- und Chemotherapie. Diese Behandlungen können Leben retten, sind aber auch sehr belastend.
Auf der Webseite »Kinderkrebsinfo.de« stehen umfassende Informationen über aktuelle Therapieoptionen. Leonards Eltern haben sich für die Bestrahlung mit Protonen entschieden, die als besonders sanft und nebenwirkungsarm gilt. Im WPE, dem Westdeutschen Protonentherapiezentrum in Essen, bekam Leonard insgesamt 30 Bestrahlungstermine. »Wir hatten Glück im Unglück: Wir können unserem Kind die beste Behandlung ermöglichen. Mir ist sehr bewusst, dass es auf dieser Welt zig Leute gibt, die diese Chance nicht haben, weil sie sich das finanziell nicht leisten können.«
Krankenkassen in Deutschland sind verpflichtet, Kindern eine bedarfsgerechte Versorgung zu ermöglichen. Meistens tun sie das mit einem höheren Maß an Unterstützung und Flexibilität als bei Erwachsenen. »Ich bin einfach nur dankbar«, versichert Gabriel Ilie.
Eltern krebskranker Kinder erhalten eine Fülle medizinischer Informationen, die sie in ihrer emotionalen Ausnahmesituation oft nur schwer verarbeiten können. Deshalb macht ihnen das Team pädiatrischer Psychoonkologinnen des WPE ein Betreuungsangebot. Die Leiterin, Nicole Stember, beobachtet immer wieder, wie die Familien von heute auf morgen in eine andere Welt katapultiert werden: »Die Diagnose verändert ihr ganzes Leben. Plötzlich müssen sie mit ganz neuen Gedanken und Ängsten umgehen.«
Moderne Medizin macht Hoffnung
Wird ein Tumor frühzeitig erkannt, sind die Nebenwirkungen und Langzeitfolgen der Behandlung oft geringer. Doch je weiter der Krebs fortgeschritten ist, desto belastender wird die Therapie. Dann stehen die Familien unter einem enormen Druck. Sie sollen eilig weitreichende Entscheidungen treffen, obwohl ihnen schon das medizinische Fachvokabular fremd ist. »Es geht um so seltsame Begriffe wie kraniofaziales Genom oder Germinomsarkome«, erklärt die Psychoonkologin Nicole Stember. »Im besten Fall können wir Ängste reduzieren. Anfangs fühlt sich alles unwirklich an. Die ganze Familie wird durchgerüttelt. Auch Geschwisterkinder brauchen Aufmerksamkeit. Großeltern wollen helfen.«
In dieser Phase gibt es keinen vorgezeichneten Weg. Die Entscheidungen der Eltern können gravierende Auswirkungen auf das gesamte Leben ihres Kindes haben. Einige Therapien sind vielversprechend, aber auch besonders riskant. »Wenn wir im Bereich des Hirns bestrahlen, haben wir im Laufe der Jahre gewisse IQ-Punkt-Verluste«, erläutert Nicole Stember. »Das kann zu Konzentrationsproblemen führen oder zu einer verlangsamten Arbeitsgeschwindigkeit. Das muss den Eltern bewusst sein. Auf der anderen Seite weiß man: Es gibt keine andere Option, wenn man das Leben des Kindes retten will.«
Dieser Entscheidungsdruck führt zu erheblichem Stress, auf den Menschen sehr unterschiedlich reagieren. »Da gibt es die absolute Verzweiflung«, sagt Nicole Stember, »oder ein Gefühl der Surrealität. Man kann gar nicht glauben, dass man selbst betroffen ist. Oft geht es auch um spirituelle Fragen: Warum hat Gott das zugelassen? Oder es wird verdrängt: Nein, das kann nicht sein. Da hat sich jemand vertan. Da wurden Bilder vertauscht.«
Die Sorgen jugendlicher Patienten
Besondere Herausforderungen ergeben sich auch im Umgang mit älteren Kindern und Jugendlichen. »In diesem Alter spielt die Ablösung vom Elternhaus eine große Rolle«, sagt Nicole Stember. »Aber die Erkrankung verstärkt ihre Abhängigkeit. Das kann für junge Menschen sehr frustrierend sein.«
Ein solcher junger Mensch ist Finn, 17 Jahre alt. Er macht gerade sein Fachabitur. Vor vier Jahren wurde das erste Mal Krebs in seinem Kopf entdeckt. »Das war schlimm«, erinnert sich der schlanke Junge mit bleichen Wangen. »Ich wurde aus meinem normalen Leben gerissen, plötzlich war alles anders. Ich musste zu Hause bleiben, war traurig und habe mich gefragt: Warum ich? Andere Leute, die sich drei Schachteln Zigaretten am Tag reinhauen, werden doch auch nicht krank. Es war schlimm, meine Eltern so traurig zu sehen.«
Als Finns Mutter von der Erkrankung erfuhr, war ihre erste Frage: »Wie lange habe ich noch mit meinem Kind?« Der Weg, den Eltern krebskranker Kinder gehen müssen, ist nicht gradlinig. Jede Untersuchung kann neue Überraschungen bringen. »Am Anfang hieß es: ›Bei dem Finn machen wir nur eine kleine Chemotherapie.‹ Aber daraus wurden dann vier starke Zyklen plus Hochdosis-Chemotherapie plus Bestrahlung. Für meinen Sohn ist eine Welt zusammengebrochen.«
Den meisten Jugendlichen ist ihre Individualität sehr wichtig. Zugleich wollen sie aber auch Teil einer Gruppe sein. In der Regel finden sie es nicht besonders cool, als krank zu gelten. Finn jedenfalls fand die viele Aufmerksamkeit furchtbar. »Die ganze Schule war schockiert. Oma und Opa waren schockiert. Da fühlt man sich dann noch schlechter, weil man der Grund dafür ist, dass andere Angst haben.«
Finn fände es gut, wenn die Leute in seiner Umgebung ihn nicht als den Krebskranken sehen, sondern einfach nur als den Jungen Finn. »Das wäre schön«, sagt er. »Ich habe halt eine Glatze und keine Augenbrauen. Aber das wird sich auch wieder ändern.«
Nicole Stember erlebt oft, dass Menschen im Umfeld der Familien krebskranker Kinder von der Situation überfordert sind. »Da kommen tiefe Ängste an die Oberfläche. Deshalb tut es gut, wenn Menschen da sind, die der Situation mit Mut, Hoffnung und einer gewissen Gelassenheit begegnen.«
Auch die Betroffenen selbst müssen lernen, mit ihren Ängsten umzugehen. Finn tut sich da noch immer schwer: »Die Angst, dass der Krebs wiederkommt, ist halt immer da. Ich hatte es jetzt schon zweimal. Und nun wurde ein drittes Mal bestätigt, dass der Krebs zurückgekommen ist. Ich lenke mich vor allem durch Musik ab. Von Pop bis Techno ist alles dabei.«
»Die ganze Schule war schockiert. Oma und Opa waren schockiert. Da fühlt man sich dann noch schlechter, weil man der Grund dafür ist, dass andere Angst haben.«
Finn
Aber das Ablenken funktioniert nicht immer, erzählt Finns Mutter: »Vor Beginn der Bestrahlung war er zwei Wochen lang zu Hause. Auf einmal fing er an, abends zu weinen. Er hat mir gesagt: ›Wenn ich blind werde oder querschnittsgelähmt, dann bring ich mich um. Dann will ich nicht mehr leben.‹«
In solchen Situationen bekommt die Familie Unterstützung vom psychoonkologischen Team des WPE. »Ich habe hier angerufen, und schon zwölf Stunden später konnten wir ein Gespräch führen. Das war eine sehr wertvolle Aufklärung über die Risiken der Behandlung. Aber wir haben auch über andere Fragen gesprochen«, erzählt sie. »Zum Beispiel: Was habe ich falsch gemacht? Solche Gedanken können auch die Beziehung des Ehepaares sehr belasten.«
Nicole Stember erlebt oft, dass die Erkrankung eines Kindes schwere Krisen in der Partnerschaft der Eltern auslöst: »Da geht es um verdeckte Schuldzuweisungen. Der eine sagt, er habe schon viel früher zum Doktor gehen wollen. ›Aber du hast ja immer gesagt, das ist nicht nötig.‹ Fast immer ist Schuld ein Thema.«
Finns Mutter erinnert sich mit Schaudern daran, wie die Ärzte nach der ersten Operation sagten, Finn sei wochenlang in akuter Lebensgefahr gewesen. »Ich habe das damals nicht gemerkt. Auch sein Arzt hat abgewiegelt, alles sei in Ordnung. Aber ein anderer Arzt hat darauf bestanden, dass wir ein MRT vom Kopf machen. Deshalb lebt Finn heute noch.«
Doch seit Beginn der Odyssee ihrer Familie hat Finns Mutter auch positive Aspekte dieser Erfahrung entdeckt: »Finn ist heute so, wie er ist, weil er sich aufraffen musste. Er ist ein Kämpfer geworden. Er weiß, was er will. Das macht mich unheimlich stolz. Er möchte Physiotherapeut für krebskranke Kinder werden.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.