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Masirische Kultur: »Die eigene Geschichte anschauen«

Samira Belyouaou über kollektive Verantwortung, Rassismus und die Imazighen

  • Interview und Foto: Timo Reuter
  • Lesedauer: 6 Min.
Imazighen aus Marokko – Masirische Kultur: »Die eigene Geschichte anschauen«

Samira Belyouaou, worum geht es in Ihrer Podcast-Reihe?

Ich bin in Heidelberg geboren – meine Familie, die heute mehrheitlich in Deutschland und Belgien lebt, kommt ursprünglich aber aus Marokko. Unsere Identität ist jedoch nicht arabisch, sondern wir sind Imazighen, also die Bevölkerung, die seit Jahrtausenden in Nordafrika lebt. Im Podcast geht es viel um Self-Empowerment und darum, sich die eigene Geschichte anzuschauen.

Was steckt hinter dem Namen des Podcasts, »Amazigh_XberberIn«?

Lange Zeit wurden wir ja als »Berber« bezeichnet – das »X« vor »BerberIn« soll ein »Ex« ausdrücken, da ich mich von diesem Begriff verabschiedet habe, weil es eine abwertende Fremdbezeichnung ist. Der Name kommt nämlich von »Barbar«, also von Menschen, die lallen oder stammeln – was mit einem »nicht-zivilisiert sein« gleichgesetzt wurde. Allmählich setzt sich nun aber der Begriff der Imazighen durch, was übersetzt »freie Menschen« bedeutet. Der Singular ist Amazigh – das »gh« wird dabei wie ein »r« ausgesprochen. Im Deutschen kann man auch von Masirinnen und Masiren sprechen. Dieser masirischen Identität habe ich mich auch durch den Podcast nach und nach zugewendet.

Interview

Samira Belyouaou hat Sprachen, Kultur und Translationswissenschaft studiert. Seit Mai 2024 ist sie Vorsitzende der Amazigh-Akademie, eines Vereins für masirische Kultur mit Sitz in Frankfurt am Main. Davor hat sie den »ersten deutschen Podcast rund um Imazighen« betrieben: Amazigh_XberberIn.

Sie mussten sich dieser Identität also erst aktiv zuwenden?

Ja. Während meiner Masterarbeit im Fach Translation befasste ich mich mit spanischen Einflüssen auf medizinische Fachwörter in Tarifit – das ist meine masirische Muttersprache. Dabei habe ich mich dann auch mehr mit der masirischen Geschichte beschäftigt und gemerkt, wie sehr meine Selbstwahrnehmung von der Fremdwahrnehmung beeinflusst war.

Was heißt das konkret?

Mich hat meine masirische Identität früher nicht wirklich interessiert, ich habe eher das aufgenommen, was uns zugeschrieben wurde: dass wir ungebildete und unzivilisierte Leute seien. Außerdem musste ich immer lang und breit erklären, wer wir überhaupt sind. Also habe ich einfach gesagt: Wir sind Araber. Dann war die Diskussion schnell beendet. Wenn ich in der Wahrnehmung vieler Menschen schon nicht zu Europa gehören durfte, dann konnte ich wenigstens dort dazugehören.

Sie fühlen sich hier nicht zugehörig?

In Deutschland bin ich ja meist zuerst die Muslimin – oder diejenige mit Migrationshintergrund. Da steckt viel Diskriminierung drin, zumal der Rassismus hierzulande immer größer wird. Das hat mich viel beschäftigt. Zugleich kann ich mich noch erinnern, dass es auch in der nordafrikanischen Community nicht unbedingt gut angesehen war zu sagen: Ich bin Marokkanerin, aber meine erste Sprache ist nicht Arabisch.

Inwieweit werden die Imazighen in Nordafrika diskriminiert?

Die Situation ist kompliziert. Auf der einen Seite ist da auf jeden Fall Diskriminierung. Unsere masirischen Sprachen wurden etwa in Marokko lange gar nicht anerkannt. Die Folge ist, dass sie heute von viel weniger Menschen in der Bevölkerung gesprochen werden – vor der Unabhängigkeit Marokkos waren es deutlich mehr Sprechende. Auf der anderen Seite finde ich es in Nordafrika auch schwierig zu sagen, alle sind Araber oder alle sind Imazighen. Natürlich gibt es Personen, die sich so oder so lesen, aber die Menschen haben sich über die Jahrhunderte eben vermischt. Und zum Teil wurde die Trennung von außen verstärkt: So wurde während der französischen Besatzung Algeriens behauptet, die Kabylen, ein masirisches Volk, seien »nordisch« und damit mehr wert als die Araber. Diese Logik folgte dem Prinzip »Teile und herrsche«, mit dem die Kolonialisten ihre Macht sichern wollten. Durch den Kolonialismus sind die Masir*innen beziehungsweise ehemals Kolonialisierte zudem bis heute durch willkürliche Staatsgrenzen getrennt.

Nordafrika erlebte seit der Antike eine lange Geschichte der Kolonialisierung. Was hat das mit dem Volk der Imazighen gemacht?

Die Imazighen wussten sich zwar zu verteidigen, aber natürlich macht es etwas mit den Menschen, wenn immer neue Kolonialmächte über sie herrschen. Die masirische Kultur wurde dadurch massiv zurückgedrängt. Die Imazighen, die jetzt noch ihre Sprachen sprechen, leben meist an abgelegeneren Orten, etwa in den Bergen oder in der Wüste. Welche transgenerationalen Traumata all das ausgelöst hat, dazu wünsche ich mir mehr Forschung.

Hat sich die Situation der Imazighen in Nordafrika heute verbessert?

Weil ich nicht dort lebe, kann ich es nicht genau sagen. Aber immerhin sind die drei masirischen Sprachen in Marokko seit 2011 offiziell anerkannt. Und seit 2010 gibt es einen öffentlichen TV- und Radiosender in masirischer Sprache. Außerdem wird versucht, die öffentliche Beschilderung mehrsprachig zu machen und die masirischen Sprachen auch in lokalen Schulen zu integrieren. All das ist natürlich ein Fortschritt. Aber die Reise muss noch viel weiter gehen.

Wie ist die Lage der Masir*innen in Europa?

Die Bewegung für masirische Sprache und Kultur gibt es in Europa mindestens seit der Unabhängigkeit Marokkos 1956. Als die sogenannten Gastarbeiter*innen nach Deutschland kamen, haben sie Vereine gegründet, um sich zu vernetzen. Aber dieses Ziel ist heute leichter zu erreichen dank Social Media. Jetzt kann ich mich mit Aktivist*innen aus Spanien vernetzen, ich habe Zugriff auf Inhalte von Forschenden auf der ganzen Welt. Und gerade weil es zunehmend mehr masirische Kunst gibt, ist es irgendwie cool geworden, eine masirische Identität zu haben. Die Rapperin Namika ist so eine prominente Figur, die masirische Elemente in ihre Texte einbaut – ebenso wie der Comedian Benaissa Lamroubal mit seiner Ethno-Comedy. Es gab Ende 2023 sogar eine Sendung mit der Maus über die Imazighen. Aber diese Sichtbarkeit gibt es bei mir in Heidelberg zum Beispiel gar nicht.

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Immer wieder wird über die starke Stellung der Frau in masirischen Gesellschaften berichtet und über die weibliche Erbfolge.

Wenn man sich dem Phänomen auf der sprachlichen Ebene nähert, entdeckt man, dass »Frau« in fast allen masirischen Sprachen »Tamghart« heißt – da steckt die »Große« drin, dasselbe Wort, das auch im »Chef« oder in »Oberhaupt« steckt. Eine andere interessante Info habe ich von einem Forschungsinstitut in Granada. Zur Zeit von al-Andalus – also zwischen 711 und 1492 – war es demnach so, dass die Kinder automatisch masirisch waren, wenn die Mutter es war. Und bis heute haben die Frauen etwa bei den Tuareg eine starke Stellung, dort gibt es eine matrilineare Erbfolge und es wird teilweise noch in die Familie der Frau eingeheiratet. Aber natürlich gab es im Laufe der Jahrhunderte viele fremde Einflüsse auf die masirische Kultur – und die meisten dieser anderen Kulturen waren ja patriarchal.

In Ihrem Podcast geht es auch um die kollektive Verantwortung in masirischen Gesellschaften. Was ist damit gemeint?

In den Dörfern im Süden Marokkos sind die Menschen teils so abgekapselt von staatlichen Strukturen, dass man aufeinander angewiesen ist. Wenn jemand Probleme hat, wird das meist von allen aufgefangen. Das nennt man Twisa: Wenn etwa die Ernte ansteht, helfen alle mit, egal wem das Feld gehört. Eine andere Geschichte dreht sich um die selbstorganisierte Feuerwehr: Im heißen Sommer verlassen die Menschen ihr Dorf und ziehen in eine Art Sommerdorf in den Bergen, wo es kälter ist. Eine Person bewacht dann das eigentliche Dorf, und falls es dort brennt, rennt sie in das Sommerdorf und schlägt Alarm: Dabei wird nicht gesagt, welches Haus brennt. Alle Familien müssen dann jemanden zum Löschen schicken – es könnte ja ihr Haus sein.

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