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Brutaler Oscar
Ist die Oscar-Akademie entgegen allen Anschuldigungen progressiv und divers?
Howdy aus Texas, liebe Leserschaft,
sind Sie es auch leid, ständig über die politische Lage (oder eher Plage) zu lesen? Dann lassen Sie uns doch von etwas anderem sprechen: von Filmen zum Beispiel. Die sind die beste Realitätsflucht, weil sie die Realität zwar täuschend echt abbilden, aber trotzdem nie ganz an das reale Grauen rankommen können. Da trifft es sich besonders gut, dass gerade zum 97. Mal die wohl berühmteste Preisverleihung überhaupt, die mit den goldenen Männchen, stattgefunden hat. Und die sorgt immer für Überraschungen: Mal wird jemand geohrfeigt, mal fällt jemand hin, mal machen Geschwister rum, mal trägt jemand einen Schwan um den Hals. Die Filme selbst sind etwas vorhersehbarer, in den letzten Jahren wird scheinbar ein Katalog für Nominierungen abgearbeitet: Immer dabei, ein sogenannter »Oscar Bait«-Film, also ein Oscar-Köder – ein monumentaler, arschlanger Film, oft von einem legendären, semi-senilen Regisseur, über amerikanisierte Geschichte und/oder Gangster. Dann gibt es fast immer ein mehr oder minder hohles Musical mit mal mäßig, mal super gut singenden Superstars, einen Zweite-Weltkrieg- und/oder Holocaustfilm, ein unnötiges Remake, dessen Original man längst verdrängt hat, ein Biopic, was Irres-Internationales und ab und an einen Papstfilm mit einem alternden Schönling.
Oft wird mit den Preisverleihungen der Anschein erweckt, die Oscar-Akademie sei entgegen allen Anschuldigungen progressiv und divers. Und fast genauso oft geht dieser Versuch schief, wie auch dieses Jahr mit »Emilia Pérez«, einem französischen Filmmusical, das gleich zwei Punkte vom eben beschriebenen Katalog streicht und welches für unglaubliche 13 Oscars nominiert wurde. Abgesehen davon, dass das Drehbuch sinnbefreit und die Songs lahm sind, ist der Film mit Kontroversen gespickt. Mexiko sei stereotypenhaft und unauthentisch dargestellt worden, sagten Kritiker zu Recht. Dann war auch noch die Hauptdarstellerin, Karla Sofía Gascón, eine transsexuelle Spanierin, durch alte rassistische Tweets negativ aufgefallen. Apropos Transsexualität: Wie unwoke und bekloppt ist ein Musical, in dem eine Geschlechtsumwandlungs-OP unironisch mit »From Penis to Vagina« besungen wird? Fast genauso dämlich und leider auch französisch (Was ist nur los im Land der Cineasten?) ist »The Substance«, ein pseudofeministischer Schinken, der angeblich den Beautyfanatismus und Ageism der Filmindustrie anprangern will, bewaffnet mit Beauty und Ageism. Ist es da nicht fair, dass die junge hübsche Mikey Madison am Ende der alten hübschen Demi Moore den Oscar stahl?
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Damit wären wir bei dem Gewinner des Abends: »Anora« gewann fünf Oscars. Darin zieht eine Sexarbeiterin in New York einen russischen Oligarchensohn an Land. Anders als die meisten Ami-Filme, die Osteuropäer und vor allem Russen zeigen, ist dieser ungewohnt authentisch. Normalerweise mimen Schweden oder Serben die Russen mehr schlecht als recht, im Drehbuch finden sich Fehler wie Sand am Meer. Darauf wurde hier verzichtet. »Anora« ist mitnichten ein Meisterwerk, sondern nur eine »Tale old as time«, aber doch nett, dass die Hauptfigur, ungleich Manon Lescaut oder der Kameliendame, nicht ihr Leben lassen musste, sondern nur den russischen Zobelmantel. Ach ja, da war doch was: Der Film erwähnt den Ukraine-Krieg mit keinem Wort, obwohl es ein Leichtes wäre, in einen Stripclub voller Migrantinnen zumindest minimal Russlandkritik einzubauen. Und dass der oskarnominierte Nebendarsteller Yuri Borisov zu Hause in Propagandafilmen mitspielt, ist dem angeblich so politisch engagierten Hollywood auch egal. Ich habe Sie hier schon mal gewarnt (und Sie haben es aufgrund neuester politischer Entwicklungen sicher selbst gemerkt): Die Amerikaner haben einen Russlandfetisch. Und sorry, dass ich heute wieder nicht vom politischen Geschehen ablenken konnte. Nächstes Mal versuche ich es gar nicht erst.
Jetzt brennen Sie sicher darauf, meinen Lieblingsfilm von 2024 zu erfahren. Da bin ich ganz basic: Der Oscar-Bait-Brutalist! Natürlich war er zu lang, aber er war ungleich seinen Konkurrenten voll von unerwarteten Wendungen und führte etwas vor, das zukünftig leider akut werden könnte: den Tod des amerikanischen Traums. PS: Ich weiß noch immer nicht, nach welchem Oscar die Oscars benannt wurden – Sie etwa?
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