»Flow«: Ein animiertes Kunstwerk für jeden

Ein Film zum An-die-Wand-hängen: Der Oscar-Gewinner und erfolgreichste lettische Film aller Zeiten »Flow«

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Umwerfend schön: »Flow«
Umwerfend schön: »Flow«

Der Mensch ist von der Erdoberfläche verschwunden, die Natur erholt sich. Das Wasser steigt, immer wieder wird die Welt, in der der lettische Animationsfilm »Flow« spielt, geflutet. Ein urviehförmiger Wal-Reptil-Hybrid durchkreuzt die Gewässer, die Tiere bevölkern die Erde nun allein. Nur leere Häuser und verwitterte Haushaltsgegenstände erinnern daran, dass es einmal so etwas wie eine Menschheit gab.

Was passiert ist, erfährt die Zuschauerin in »Flow« nicht direkt – die naheliegende Assoziation bei Überschwemmungen lautet natürlich Klimakatastrophe. Aber das ist in diesem Fall halt auch komplett egal. Von der ersten Filmminute an rücken die prächtigen, fotorealistischen Gemälde in den Mittelpunkt, die hier nicht nur den Hintergrund der Geschichte bilden, sondern wie serialisierte Kunstwerke gesehen werden können. Man könnte sich jedes einzelne Bild als Gemälde an die Wand hängen. Eine ganz traditionelle Schönheit wird man in der Geschichte des Animationsfilms nur selten finden. Dass dieser Film nicht nur umgehend zum erfolgreichsten lettischen Film aller Zeiten geworden ist und mit massig Preisen, unter anderem dem Oscar für den besten Animationsfilm, beworfen wurde, ist keine Überraschung. Ein Konsensfilm im besten Sinne. Eine irgendwie negativ ausgefallene Kritik wird man vergeblich suchen.

In diesen Kunstwerken und damit durch diese Welt bewegt sich eine kleine schwarze Katze. Sie sucht Nahrung, flieht vor einem Hunderudel oder vor gefräßigen großen weißen Vögeln und versucht, den immer wieder ansteigenden Fluten zu entkommen. Als es ihr gelingt, mit einem Segelboot einen halbwegs gesicherten Ort zu finden, bekommt sie Gesellschaft. Zuerst ein verpenntes Capybara, dann ein sammelwütiges Lemuräffchen und schließlich ein Retriever. Zuletzt stößt noch einer der weißen Vögel, eigentlich ein Fressfeind, zu der Truppe hinzu.

Man kennt Geschichten mit derartigen Konstellationen aus unzähligen Disney-Filmen und also bis zum Erbrechen: Tiere mit menschlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Problemen müssen eine Reihe von Abenteuern bestehen, die allesamt zur Charakterbildung dienen. »Flow« weicht von dieser Tradition nicht nur dadurch ab, dass man in ihm (mit einem ungleich geringeren Budget als jede Disney-Produktion) ungleich schönere, weil vor Ideen und Farben geradezu überquellende Bilder findet, sondern auch durch einen fundamental anderen Blick auf das Tier. Die tierischen Helden hier sind nämlich eigentlich keine, also keine Helden. Sie sprechen nicht, sondern geben Tierlaute von sich. Und sie haben keine Menschenprobleme, sondern sehr naturhafte: Fressen finden, gefressen werden, einen Unterschlupf suchen.

Die Katze mobilisiert durchaus alle Kindchenschema-Affekte, ist aber in ihren Bewegungen und dem, was man, wenn auch vermenschlichend, Mimik nennen könnte, durchaus wirklichkeitsnah. Wenn auch ungeheuer stark im Ausdruck. Dieser aber stellt sich hier nicht durch eine realistische Ästhetik her, sondern über sanfte Abstraktion. Während jüngere Disney-Produktionen in ihrem hoch technisierten Realismus eher verkrampft wirken (oder auch schlicht wie ein Playstation-5-Game anmuten), gelingt es dem Regisseur und Autor Gints Zilbalodis, die Ausdrucksstärke durch Simplifizierung herzustellen. Anhand von »Flow« kann man sich noch einmal ein sehr grundlegendes Paradox des Animationsfilms vor Augen führen: Je näher das animierte Bild es mit den Mitteln der Technik auf ein In-eins-fallen mit der Wirklichkeit anlegt, umso künstlicher wirkt es. Während die Bilder, die, wie hier, bewusst von der Künstlichkeit des eigenen Mediums ausgehen, einen viel unmittelbarer berühren können.

Dazu kommt, dass »Flow« immer wieder dezent ins Fantastische ausschert. Die Katze kann das Segel des Bootes lenken, und am Ende rettet die Tierbande einen von ihnen mit komplexen physikalischen Überlegungen vor dem Sturz in eine Flut. Trotzdem wird hier nichts vermenschlicht, das Menschliche glänzt auch in dieser Hinsicht durch Abwesenheit. Die Tiere legen kein menschliches Verhalten an den Tag.

»Flow« gehört zu den immersivsten Filmen der letzten Jahre. Sein titelgebender Flow, zusammengesetzt aus Bewegtbildern, einnehmender Musik und vor allem Farben, bildet einen Sog, in dem sich die Frage nach dem Realismus der Bilder gar nicht mehr wirklich stellt. Man ist von Anfang bis Ende hin und weg und fiebert mit den grundlegenden Problemen mit: ertrinken, gejagt werden – wie kommt man wo rauf, wie fällt man nicht runter, wem kann man vertrauen und wem nicht? Trotzdem taugt »Flow« nicht als Parabel oder gar als Allegorie. Die Bilder wollen nicht mehr bedeuten, als sie sind, zumindest nicht viel mehr: Bilder von Tieren, die sich durch eine Welt ohne Menschen bewegen. Und diese Bilder sind von einer wirklich umwerfenden, kunstvollen Schönheit.

»Flow«: Lettland 2024. Regie: Gints Zilbalodis Buch: Gints Zilbalodis, Matīss Kaža. 88 Min. Jetzt im Kino.

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