Zwischen Stigma und Reformdruck

Fachverbände fordern besser zugängliche Therapien statt Register für psychisch Kranke

Psychiatrische Notaufnahme in einem Hamburger Krankenhaus: Hierher kommen Menschen in akuten seelischen Krisen.
Psychiatrische Notaufnahme in einem Hamburger Krankenhaus: Hierher kommen Menschen in akuten seelischen Krisen.

Messerattacken oder Anschläge, die mit Autos ausgeführt werden, beschäftigten viele Menschen auch hierzulande. Zwar sind durchaus nicht alle Täter der jüngsten Anschläge psychisch krank und könnten im Verlauf von Gerichtsverfahren als schuldunfähig erklärt werden – aber diese Gruppe steht besonders im Fokus medialer Berichterstattung und allgemeiner Ängste, die in sozialen Medien geschürt werden.

Die Stigmatisierung psychisch Kranker ist in Deutschland keine neue Geschichte. So gebrandmarkte Menschen, die »Irren«, galten schon lange als die »Anderen« der Gesellschaft. Zum Umgang mit ihnen gehörten die Vertreibung aus den Städten, Entmündigung oder das Wegsperren in »Anstalten« ohne jede Behandlungsabsicht. Die Betroffenen galten als soziale Unruhestifter und Gegner – bis hin zu Euthanasie mit geplanter Vernichtung von Kranken in der Zeit des deutschen Faschismus.

Die schiere Menge psychiatrischer Diagnosen, die jedes Jahr in Deutschland gestellt werden, macht die Register-Idee absurd.

Aber auch heute berichten Angehörige der Kranken, Beschäftigte von Fachkliniken und natürlich Betroffene selbst von Unverständnis und Ablehnung, mit denen sie – teils zusätzlich zur eigenen Krankheitslast und schweren Symptomen – zu kämpfen haben. Die fortdauernde Stigmatisierung trägt mit dazu bei, dass der psychiatrischen Versorgung im Allgemeinen eine starke, ausdauernde Lobby fehlt.

Für psychisch kranke Menschen sind niedergelassene Psychiater und Psychologen da, wobei hier lange Wartezeiten für Termine üblich sind. Manchmal ist eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik angeraten. Medikamente gehören häufig zur Therapie. Außerdem gibt es weitere Einrichtungen wie Tagesambulanzen an Krankenhäusern, betreutes Wohnen oder den sozial-psychiatrischen Dienst (SPDi).

In diesem System bieten die sozial-psychiatrischen Dienste ein niedrigschwelliges und beratendes Angebot. Oder besser: sie sollten es bieten. Denn in einer akuten Krise auch aufsuchend aktiv zu werden – das können die SPDi an vielen Orten nicht leisten. Ursachen sind unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen in den Bundesländern, verschiedene Träger und lokale Traditionen, wie Daniela Glagla erläutert. Die Politikwissenschaftlerin ist stellvertretende Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. Noch nicht alle SPDi gehören einem gemeindepsychiatrischen Verbund an – das würde aber den Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen Leistungserbringern (wie Krankenhäusern) vereinfachen. »Wäre diese Kooperation verpflichtend, könnten auch Menschen erreicht werden, die eine Zuschreibung wie krank oder behindert vermeiden und daher keinen Zugang zu Leistungen haben.«

Zu den Kernaufgaben der SPDi gehören laut eigener Definition eine niedrigschwellige und aufsuchende Betreuung und Begleitung, Krisenintervention und Mitwirkung bei der Unterbringung sowie die Planung und Koordination von Einzelfallhilfen. »Diese Aufgaben werden den SPDi aber nicht von allen Bundesländern zugewiesen oder wenn, nur in sehr eingeschränktem Ausmaß. Leider sind auch nicht alle SPDi durch einen Facharzt oder eine Fachärztin besetzt.«

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Die genannten Dienste sind nur ein Teil des Behandlungsangebots, das insgesamt einer Reform bedarf, wie Experten genau vor einem Jahr in einer Anhörung des Bundestages forderten. Notwendig seien mehr Personal, mehr Prävention und eine flexible Behandlung über Sektorengrenzen hinweg.

Die Stigmatisierung auf die Spitze trieb in jüngster Zeit CDU-Generalsekretär Casten Linnemann. Er hatte nach dem Anschlag auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt im Dezember ein Register für psychisch Kranke gefordert. Das Entsetzen über die Idee war groß, unter anderem bei den Fachverbänden psychiatrischer Berufe wie auch in der Selbsthilfe. Gegen den populistischen Vorschlag wurde etwa argumentiert, dass dann alle psychisch erkrankten Personen erfasst würden, unter anderem im Widerspruch zum Arztgeheimnis. Aber auch völlig unabhängig von der jeweils diagnostizierten Krankheit, vom Willen zur Gefährdung eigenen oder fremden Lebens oder von der aktuellen Verfassung. Schon die schiere Menge psychiatrischer Diagnosen, die jedes Jahr in Deutschland gestellt werden, macht die Register-Idee absurd: Je nach Angabe werden psychiche Krankheiten bei einem Viertel bis einem Drittel aller hier lebenden Menschen festgestellt.

Dieser Zahl gegenüberzustellen wäre etwa jene der in den Krankenhäusern des Maßregelvollzugs untergebrachten Menschen: Das sind aktuell etwa 13 000 bundesweit. Diese Patienten haben nachweislich eine Straftat begangen, aufgrund einer psychischen Erkrankung, einer Intelligenzminderung oder einer Suchterkrankung. Die Unterbringung erfolgt nach dem Strafgesetzbuch, wird durch einen Richter angeordnet und in regelmäßigen Abständen durch Gutachten überprüft. In diesen Fällen waren die Täter und wenige Täterinnen nachgewiesen schuldunfähig.

Wie leicht ersichtlich ist, ist die Zahl der psychisch Kranken in Deutschland um ein Vielfaches größer. Dringender Reformbedarf besteht aber auch deshalb, weil nur ein Bruchteil der Kranken in Behandlung ist. Einerseits wegen schlechter Versorgung, andererseits sind nicht alle Betroffenen bereit oder in der Lage, ihren seelischen Notstand als Krankheit anzuerkennen und lehnen dann institutionelle Hilfe ab.

Ein weiterer Fachverband, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, hat angesichts der Diskussion um die Gewaltprävention als bestes Mittel die konsequente Behandlung der Betroffenen in den Mittelpunkt gestellt. Deshalb sei es wichtig, »dass insbesondere Menschen mit Psychosen und Suchterkrankungen, die ohne Behandlung ein erhöhtes Risiko für Gewalttaten aufweisen, frühzeitig eine koordinierte und intensive Therapie bekommen«.

Wie kann die Versorgung verbessert werden, und auch so, dass sie von Betroffenen angenommen wird? Dabei geht es aus Sicht der DGSP nicht einfach um mehr Geld oder mehr Personal an der einen oder anderen Stelle. Das Problem ist größer und hat auch mit der Fragmentierung der Sozialgesetze zu tun: Diese führe dazu, dass Leistungen nicht ausreichend erbracht werden.

Der Verband hat sich die Schnittstellen – etwa zwischen Kliniken und ambulanter Versorgung – genauer angesehen. Gefordert wird eine Versorgungsverpflichtung in jeder Region mit verbindlich geregelter Verantwortung der einzelnen Anbieter, von der Fachklinik bis zur Obdachlosenhilfe. Den Kranken soll das Recht auf eine umfassende, koordinierte Leistung gesichert werden, wie Glagla die Verbandsposition erläutert. Das würde voraussetzen, dass Entscheidungen rund um die Uhr und sieben Tage in der Woche möglich sind.

Im Interesse der Menschen mit psychischen Krankheiten wie ihrer Angehörigen ist eine Reform unverzichtbar. Und zwar selbst dann, wenn Gewalttaten niemals hundertprozentig auszuschließen sind.

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