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Gegen die drohende De-Industrialisierung

Aktionstag: Gewerkschaften mobilisieren bundesweit Zehntausende Beschäftigte zu Großkundgebungen

Die IG Metall will mit zehntausenden Beschäftigten Druck auf die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD machen.
Die IG Metall will mit zehntausenden Beschäftigten Druck auf die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD machen.

»Wir brauchen Investitionen für Deutschland, für die Industrie und vor allem für die Arbeitsplätze«, ruft Ralf Reinstädtler, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, am Samstag von der Bühne den Tausenden Anwesenden auf dem Leipziger Augustusplatz zu. Sie sind aus Brandenburg, Berlin, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt zu der Gewerkschaftskundgebung in die Messestadt gereist. Auch in Hannover, Frankfurt am Main und Stuttgart hat die Industriegewerkschaft gemeinsam mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) zu Protesten aufgerufen. Insgesamt 77 000 Menschen sollen sich laut IG Metall beteiligt haben – »die größte öffentliche Aktion der Gewerkschaft seit Jahrzehnten«.

»Wenn ich in die Gesichter schaue, sehe ich Entschlossenheit«, beschwört Reinstädtler eine kämpferische Stimmung. Und er warnt vor unfairer Konkurrenz »aus Amerika und Asien« durch Handelsbeschränkungen und Subventionen. Vor der Bühne ertönen Jubel und Trillerpfeifen. Hier und da wird ein bengalisches Feuer entzündet. Weiter hinten unterhalten sich Beschäftigte in Kleingruppen. Im Laufe des Mittags wird die Luft zunehmend von Bier- und Bratwurstdunst geprägt. Es herrscht Volksfeststimmung.

»Wenn ich in die Gesichter schaue, sehe ich Entschlossenheit.«

Ralf Reinstädtler IG Metall

Dabei ist der Anlass für den Aktionstag alles andere als feierlich. Teile der Industrie – mit Ausnahme der florierenden Rüstungsindustrie – stecken in einer tiefen Krise. In der Automobilbranche verzeichnen die Konzerne vor allem im Bereich der Elektromobilität erhebliche Umsatzrückgänge, darunter bei VW, Porsche und BMW. Die Verwerfungen treffen auch vorgelagerte Zulieferbetriebe wie den Getriebehersteller ZF in Brandenburg oder den Fahrzeugtechnikzulieferer MFT aus Cunewalde in Sachsen. Zahlreiche Unternehmen haben angekündigt, Stellen und Produktionskapazitäten abbauen zu müssen.

Die Sparpläne und Stellenstreichungen deuten darauf hin, dass die Unternehmen die Lage nicht als vorübergehende Krise betrachten, erklärt Sebastian Link vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Und der Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien, warnte zuletzt vor Anzeichen einer Deindustrialisierung, die sich weiter verfestigen könnten und kaum umkehrbar wären.

Einen Auftragsrückgang gebe es zwar auch bei ihr im Unternehmen, berichtet eine Teilnehmerin dem »nd«. Sie arbeitet bei Joyson Saftey Systems im sächsischen Freiberg, wo unter anderem Gasgeneratoren für Airbags hergestellt werden. »Aber ein Stellenabbau droht nicht«, erzählt sie. Dennoch macht auch sie sich Sorgen mit Blick auf die Wirtschaft und will, dass investiert »und nicht auf unserem Rücken gespart wird«.

Die IG Metall fordert, dass die künftige Bundesregierung öffentliche Gelder in Milliardenhöhe für den Umbau der Industrie und die Energiewende aufbringt, auch um private Investitionen anzukurbeln. Darüber hinaus soll die Europäische Union mehr für den Schutz der hiesigen Unternehmen tun, etwa durch eine sogenannte Local-Content-Strategie. Danach müsste ein gewisser Fertigungsanteil aus Europa kommen. Eine Krisenstrategie für die Branche stellt die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch vor.

Lob von der IG Metall gibt es für die am Freitag »auf Druck der Grünen gefundene Lösung, wonach 100 Milliarden Euro dem Klima- und Transformationsfonds zugeführt werden sollen«, wie es auf nd-Anfrage heißt. Union und SPD hatten sich mit den Grünen auf ein Investitionspaket von insgesamt 500 Milliarden Euro und eine verfassungsändernde Reform der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben geeinigt. Die anvisierte Lockerung der Klausel geht der IG Metall zwar nicht weit genug, aber entscheidend sei, dass nun »ausreichend Mittel für dringend notwendige Investitionen zur Verfügung stehen«.

Auch darüber hinaus seien weitere Entlastungen ausschlaggebend, betont der Vorsitzende der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, dessen Rede in Hannover per Liveschalte in Leipzig zu hören ist. »Die Energie- und CO2-Preise sind viel zu hoch, gleichzeitig fehlt es an grünem Strom«, bemängelt er. Neben günstigeren Energiepreisen müsse auch die CO2-Bepreisung zeitweilig ausgesetzt werden. Damit dürfte der Gewerkschaftsvorsitzende insbesondere bei der Klimabewegung auf scharfe Kritik stoßen, die etwa mit der Kampagne »Wir fahren zusammen« anwesend war. Die Aktivist*innen setzen sich für eine sozial-ökologische Verkehrswende ein.

Doch von Beschäftigten erhielt Vassiliadis auch Zuspruch: »Es waren wichtige Punkte dabei«, lobt etwa Martin die Rede seines Gewerkschaftsvorsitzenden gegenüber »nd«. Er arbeitet in der Thüringer Porzellanfabrik Hermsdorf, die auf günstige Energie angewiesen sei. Ihm zufolge müsse man die energieintensive Industrie schützen und vor allem Innovationen fördern. »Wir dürfen nicht zu einer vorgelagerten Montagebank für andere werden«, bekräftigt er die Position der IG BCE.

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