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Berliner U-Bahn: Geschichtsträchtiger Waisentunnel vor Neubau

BVG sucht Baufirma für Spreequerung zwischen U5 und U8

Blick in die Spreequerung des Waisentunnels durch einen Spalt im Wehrkammertor
Blick in die Spreequerung des Waisentunnels durch einen Spalt im Wehrkammertor

»Vom Geruch her würde ich sagen: Der Zug ist schon durch«, sagt Dominic Poncé. Er arbeitet im Bereich U-Bahn-Bauplanung der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Ein feiner Diesel-Abgasgeruch liegt in dem U-Bahn-Tunnel, der die Grunerstraße im Bereich zwischen dem Cubix-Kino und den Rathaus-Passagen nahe dem Bahnhof Alexanderplatz kreuzt. Das ist das Signal, dass die Gruppe am Freitagmittag weiterlaufen darf im Verbindungstunnel zwischen U2 und U5.

Überführt worden ist dort zuvor ein Sechs-Wagen-Zug der neuen Fahrzeugserie JK des Herstellers Stadler Rail. Er dient der Fahrerschulung für den Zugtyp, der nach langen Verzögerungen auf den Linien U1 bis U4 nach den Sommerferien im September endlich in den Fahrgasteinsatz kommen soll. Normalerweise finden solche Fahrten nachts statt.

Unfall mit neuem U-Bahnzug von Stadler

Doch in der Nacht von Donnerstag auf Freitag lief etwas schief. Nach nd-Informationen überfuhr ein Lokführer die Sperre am U-Bahnhof Wuhletal. Dort gibt es ein Verbindungsgleis zwischen U-Bahn und dem Netz der Deutschen Bahn, über das neue Züge für die Berliner U-Bahn geliefert werden. Ein Kuppelwagen sprang aus dem Gleis, der U-Bahnzug »ist nicht zu Schaden gekommen«, wie die BVG-Pressestelle auf nd-Anfrage erklärt.

Fast im Minutentakt quietscht und rattert es aus allen möglichen Richtungen an dieser Stelle. Es sind die Linienzüge von U2 und U5, die zu hören sind. Einige der rund zwei Dutzend Menschen blicken sich erschrocken um, gehen aus dem Gleisbereich heraus. Dominic Poncé lacht herzhaft. »Sie haben genau richtig reagiert. Im Tunnel hört man aber oft nicht so genau, woher ein Zug kommt. Man darf aber bloß nicht ins Gegengleis laufen. Denn da kann ein Zug aus der anderen Richtung kommen, den man überhört hat.«

An diesem Punkt endet bald die über zweistündige Führung durch das Tunnelgeflecht an Betriebsgleisen zwischen U2, U5 und U8. Seit 1930 verbindet der sogenannte Waisentunnel U8 und U5. Kurz vor dem U-Bahnhof Jannowitzbrücke fädelt er Richtung Norden aus der U8 aus und mündet zwischen den Bahnhöfen Alexanderplatz und Rotes Rathaus Richtung Westen in die U5 ein.

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Die Führung ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der BVG Projekt GmbH. Denn sie hat den Auftrag bekommen, die rund 200 Meter lange Spreequerung des Waisentunnels neu zu bauen. Mit der Führung für Anrainer will sie größtmögliches Verständnis für den Bedarf und die Unannehmlichkeiten wecken, die der Bau mit sich bringen wird. Es könnte eine der letzten Führungen sein. Inzwischen ist die Vorinformation an die Baubranche herausgegangen, dass sehr bald per Ausschreibung Unternehmen gesucht werden, um die Arbeiten zu übernehmen. Im April soll die eigentliche Ausschreibung beginnen.

Neue Teilung der Berliner U-Bahn

Denn das Berliner U-Bahnnetz ist seit 2016 wieder geteilt, die U5 und damit auch die Werkstatt Friedrichsfelde vom Netz abgeschnitten. Seitdem ist der Tunnelabschnitt unter der Spree gesperrt. Im Betrieb ist das ein Riesenproblem. Denn damit muss die Betriebswerkstatt Britz an der U7 die tägliche Wartung von über 80 Prozent aller U-Bahnwagen im sogenannten Großprofil der Linien U5 bis U9 übernehmen. Neben allerlei technischen Unterschieden sind dort die Wagen deutlich breiter als im sogenannte Kleinprofil der Linien U1 bis U4.

Bis zur Tunnelsperrung war die Werkstatt Friedrichsfelde an der U5 für rund die Hälfte des Großprofil-Wagenparks zuständig. Dort wurden bis 2016 auch die Züge von U8 und U9 gewaschen, gewartet und von Graffiti befreit.

20 Tage Arbeit für einen Zug

Seitdem sind Berliner U-Bahnwagen öfter auf den Straßen zwischen Britz und Friedrichsfelde zu sehen. Einzeln per Tieflader werden sie so zwischen den beiden Netzteilen hin- und hergefahren. »Der Straßentransport ist lächerlich billig geworden«, sagt Dominic Poncé. »Aber bevor die Wagen einzeln verladen werden können, sind zwei Personale fünf Tage damit beschäftigt, einen Sechs-Wagen-Zug transportbereit zu machen. Und dasselbe noch mal, um den Zug nach dem Transport wieder einsatzfähig zu machen«, sagt er. 20 Arbeitstage also für einen Zug.

Dazu kommen noch Probleme bei der betrieblichen Flexibilität. Da seien die »betrieblich nicht unproblematischen« Züge der Baureihe IK, die auf der U5 fahren. Konstruiert worden sind sie eigentlich für die Kleinprofillinien U1 bis U4 und damit schmaler als der restliche Wagenpark auf der Linie. Zu erkennen sind sie an den »Blumenbrettern« genannten Ausgleichsprofilen auf Bahnsteighöhe, mit der die ansonsten viel zu große Lücke an der Bahnsteigkante geschlossen wird. »Wenn die ausfallen, können wir nicht einfach ein paar Züge von anderen Linien rüberholen«, sagt Poncé.

Fahrgäste leiden wegen fehlendem Tunnel

Das gelte auch, wenn wegen Großveranstaltungen mehr Züge benötigt würden, um die Fahrgastmassen transportieren zu können. »Deswegen mussten während der Fußball-EM 2024 manchmal überfüllte Bahnhöfe von der Polizei geräumt werden«, erläutert Poncé.

Der Experte steht unterhalb der Littenstraße auf dem stillgelegten U-Bahngleis. Hinter ihm ist der Tunnel komplett blockiert durch eine genietete Eisenwand. Es ist ein sogenanntes Wehrkammertor. Überall wo Berliner U-Bahntunnel ein Gewässer unterqueren sollen solche Sperren an beiden Enden dafür sorgen, dass bei einem Wassereinbruch nicht das komplette U-Bahnnetz absäuft. Hinter dem Tor befindet sich der kritische Teil der Strecke, die Spreeunterquerung.

In den Untergrund hinab ging es durch einen in Berlin nicht weiter auffälligen blau-gelben Baucontainer, der am Straßenrand gegenüber dem Gerichtsgebäude an der Littenstraße steht. Eine schmale, steile Treppe führt im Inneren immer weiter nach unten. In diesem Bereich sollte einst der U-Bahnhof Stralauer Straße entstehen.

Mutter-Kind-Bunker im Zweiten Weltkrieg

Der Rohbau des Bahnhofs Stralauer Straße ist im Zweiten Weltkrieg zum Bunker ausgebaut worden. Je sechs Quadratmeter große Kammern wurden durch neu eingezogene Mauern geschaffen. Der Bunker war für Mütter mit Kindern gedacht. Beschriftungen und die phosphoriszierende Farbe an den Wänden zeugen davon. Sie leuchten neongelb nach, wenn das Licht ausgeht.

Ein Kind des Ersten Weltkriegs

Wie die Spreequerung ist er in den Jahren 1913 bis 1918 gebaut worden. Mitten im Ersten Weltkrieg versuchte der Elektrokonzern AEG die heutige U8 fertigzustellen. Weil dem Unternehmen die direkte Trasse über den Alexanderplatz zu kompliziert und damit zu teuer schien, sollte der Bereich südlich umfahren werden. Doch die Sparmaßnahmen halfen nichts. 1918 wurden die Arbeiten eingestellt.

In den 1920er Jahren übernahm schließlich die Stadt Berlin die halbfertigen U-Bahnbauten und plante neu. Ein großzügiger Umsteigebahnhof für vier Linien eröffnete 1930 am Alexanderplatz. Die vierte Linie von Weißensee über die Leipziger Straße gen Westen, für die bereits Gleise am heutigen U5-Bahnsteig gebaut wurden, gibt es bis heute nicht.

Kaputt nach einem Jahr

Den ursprünglich für die Strecke vorgesehenen Tunnel funktionierte man zur Betriebsverbindung der damaligen Linien D und E um, der heutigen U5 und U8. Doch die 1917 gebaute Spreequerung musste bereits damals das erste Mal aufwendig repariert werden. Denn das damals innovative Bauverfahren hatte eine wesentliche Schwäche: Der Tunnel war nicht dicht.

Der Weg der Tunnelexpedition ist in den kritischen Abschnitt beschwerlicher. An einer in der Tunnelwand verankerten eisernen Leiter geht es rund sechs Meter nach oben durch ein nur etwas mehr als mannsgroßes, in die Betondecke geschnittenes Loch. Auf der anderen Seite führt eine Treppe wieder in den Gleisbereich. Nicht alle Teilnehmenden der Führung trauen sich auf die Leiter. Ein paar bleiben zurück.

Stahlträger gegen den Einsturz

Aus dem rechteckigen Tunnel wird auf der anderen Seite ein rundlicher. Die Gleise enden, das Schotterbett ist abgeräumt. Auf rund 20 Metern ist eine Fachwerkkonstruktion aus Stahlträgern eingebaut. »Das ist eine Steckdruckstruktur«, erläutert Dominic Poncé. Damit werde »eine besonders kritische Stelle gestützt«.

Poncé erklärt, dass die Spree damals nicht aufgegraben worden ist. Stattdessen ist das Grundwasser unter dem Fluss abgepumpt worden und es wurde ein Stollen gegraben. Darin wurde die Tunnelkonstruktion aus Eisen und Beton gebaut, von außen abgedichtet mit Bitumenbahnen, um den Bau vor dem Grundwasser zu schützen, wenn es nach Abstellen der Pumpen wieder zurückströmt.

»Weil die Bitumenschicht nicht dicht war, sickerte Wasser in den Tunnel«, sagt der BVG-Experte. Die Mengen seien nicht das Problem gewesen, doch der Beton verlor dadurch bereits ein Jahr nach Fertigstellung des Tunnels seine Tragfähigkeit. »Auskalkung« nennt er den Fachbegriff dafür. Nur die Eisenträger der Konstruktion verhinderten vorläufig den Einsturz. Die Stadt Berlin ließ vor Inbetriebnahme 1930 im Inneren einen zweiten Tunnel einziehen – daher die rundliche Form.

Ungebetener Besuch

Der Weg führt, nun unter der Spree, weiter. Zunächst gilt es, sich halb hüpfend einen Weg durch die Stahlfachwerkkonstruktion zu suchen. Dann muss man direkt an der Tunnelwand balancieren, um sich keine nassen Füße zu holen. Denn am Tunnelboden steht Wasser. »Die Pumpe ist leider wieder kaputt«, sagt Poncé. Metalldiebe und Sprayer besuchen immer wieder unerlaubt das Bauwerk. »Wir haben aufgehört, die Zugänge immer besser zu sichern«, erläutert er. »Denn jede noch so gute Sicherung wird wieder aufgebrochen. Und die Schäden werden dadurch immer größer«, so die Erfahrung.

Es liegen wieder Gleise und Schotter, und bald versperrt wieder ein genietetes Eisentor den Weg. Dahinter sind wieder fahrende U-Bahnzüge zu vernehmen. Diesmal ist es die U8. Die Spree ist unterquert.

Fluchtroute in den Westen

Auch zu DDR-Zeiten wurde die Betriebsstrecke befahren. Doch sie war streng gesichert – sie war ja über die von der West-BVG im Transit unter Ost-Berlin ohne Halt durchfahrende U8 eine Verbindung in den Westen.

»Es war ein DDR-Ingenieur, der 1967 schon attestiert hat: Das Ding ist so richtig kaputt, und hier müssen wir etwas machen.«

Dominic Poncé BVG-Experte

Unter abenteuerlichen Umständen gelang 1980 Dieter Wendt die Flucht zusammen mit seiner Familie und der seines Cousins. Trickreich nutzte er die Lücken in der Überwachung. Er kannte die Strecke gut, denn er arbeitete für die BVB, das Ost-Berliner Pendant der BVG. Die BVB waren auch für die Instandhaltung der durchfahrenden Westlinien U6 und U8 unter DDR-Gebiet zuständig. Was man sich sehr gut in begehrten Devisen bezahlen ließ.

»Es war ein DDR-Ingenieur, der 1967 schon attestiert hat: Das Ding ist so richtig kaputt, und hier müssen wir etwas machen«, berichtet Dominic Poncé. Doch es wäre sehr heikel gewesen, die einzige Verbindung zwischen Ost- und Westnetz für Bauarbeiten zu unterbrechen. »Deswegen hat die DDR gesagt: Lass den Tunnel, so schlimm kann es ja nicht sein, der wird ja nicht gleich morgen zusammenstürzen«, so Poncé.

Chance nach der Wende verschlafen

Die seitdem vergangene Zeit habe die Einschätzung bestätigt. Auch nach der Wende habe sich allerdings dann niemand daran gemacht, einen neuen Ersatztunnel zu graben. Diesmal ohne zusätzliche Spreequerung, sondern als kurze Querverbindung unter dem Stadtbahnviadukt entlang der Voltairestraße. Inzwischen sind die Flächen bebaut, der Bau eines preiswerten Ersatzes für den Waisentunnel nicht mehr möglich.

Etwa 80 Millionen Euro soll nach Auskunft des Senats vom Januar der Abbruch der alten Spreequerung und der Ersatzneubau kosten. Dazu kommen noch knapp 20 Millionen Euro für die Sanierung des restlichen Betriebstunnels. Die Hälfte der Kosten soll durch Bundeszuschüsse finanziert werden. Insgesamt geht es um 865 Meter Strecke.

Wenn der Bau dieses Jahr wirklich beginnen kann, sollte die Betriebsverbindung 2029 wieder zur Verfügung stehen, erwartet die BVG. 13 Jahre nach der Sperrung.

Amtliche Blockade

Ursprünglich war ein Baubeginn 2022 geplant. Bereits seit Jahren dringt auch das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Spree-Havel des Bundes auf eine Lösung. Denn der alte Tunnel gefährdet den Schiffsverkehr. »Taucher haben den Spreegrund an der Stelle untersucht. Die Eisenträger des Tunnels liegen dort offen«, berichtet Dominic Poncé.

Doch jahrelang blockierte das gleiche Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt den für den Bau benötigten Planfeststellungsbeschluss. Es forderte »zahlreiche vertiefende Berechnungen hinsichtlich Schiffbarkeit und Hydraulik«, insbesondere für den Fall eines hundertjährigen Hochwassers.

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