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Nikolai Urban: Aus dem KZ-Außenlager geflohen

Zum Jahrestag der Befreiung besucht Nikolai Urban mit 100 erstmals die Gedenkstätte Sachsenhausen

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.
Denkmal »Die Tragende« in Ravensbrück
Denkmal »Die Tragende« in Ravensbrück

Nikolai Urban kam 1924 im sowjetischen Charkiw zur Welt. Als Hitlerdeutschland seine Heimat überfiel, half der Jugendliche den Partisanen. Er wurde verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt, musste dann mit 17 Jahren im Außenlager Falkensee Zwangsarbeit für die Deutsche Maschinen AG leisten. Im April 1945 konnte Urban mit zwei weiteren Ukrainern fliehen, die Frontlinie überqueren und sich einem Regiment der Roten Armee anschließen, das im Mai an den Kämpfen um Berlin beteiligt war. 100 Jahre ist Urban nun alt. Er lebt in der Schweiz und hat die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen noch nie besucht. Er wird nun aber zum 80. Jahrestag der Befreiung erwartet, der Anfang Mai gefeiert wird. Geplant ist dabei auch, dass der 100-Jährige in Berlin auftritt und dort über seine Zeit im KZ spricht. Thema soll darüber hinaus auch die aktuelle Lage in der Ukraine sein, in der wieder ein Krieg tobt, bei dem Charkiw erneut in Mitleidenschaft gezogen wird.

Die wenigen ehemaligen Häftlinge von Sachsenhausen, die heute noch leben, waren einst als Kinder und Jugendliche dort und sind inzwischen hochbetagt. 30 in der Gedenkstätte bekannte Überlebende sind zum 80. Jahrestag der Befreiung eingeladen worden. Doch viele scheuen in ihrem hohen Alter die weite und für sie beschwerliche Anreise. Von den sechs, die dennoch kommen wollen, ist Jerzy Zawadzki mit 89 Jahren der jüngste. Er wurde wie sein polnischer Landsmann Bogdan Bartnikowski 1944 als Kind im Zusammenhang mit dem Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer verschleppt. Angekündigt haben sich außerdem die polnischen Juden Pola Orlen, Helga Grinstein und Richard Fagot, die heute alle drei in Israel leben.

In der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück werden elf Überlebende zum Jahrestag der Befreiung erwartet. Sie sind zwischen 80 und 97 Jahre alt. Der jüngste, Jean-Claude Passerat, kam im November 1944 als Sohn einer französischen Widerstandskämpferin in Ravensbrück zur Welt, wo seine Mutter eingesperrt war. Auch Ingelore Prochnow wurde im KZ Ravensbrück geboren. Das war im April 1944. Ihre Mutter schmachtete dort, weil sie Umgang mit einem Polen hatte, was in der verqueren faschistischen Ideologie als Rassenschande galt und verboten war. Prochnow wuchs dann bei Adoptiveltern auf. Erst als 40-Jährige forschte sie dem Schicksal ihrer leiblichen Eltern nach und erfuhr, wo sie geboren wurde. Angesagt haben sich für Ravensbrück weiterhin niederländische, dänische, polnische, slowakische und ungarische Juden, außerdem Polen, die im Zusammenhang mit dem Warschauer Aufstand ins KZ verschleppt wurden.

»Es geschah ihnen nicht. Es waren Menschen, die ihnen das angetan haben«, sagt Katrin Grüber. Sie ist Vorsitzende des Fördervereins der Gedenkstätte Sachsenhausen und sie sagt es in der brandenburgischen Landesvertretung in den Berliner Ministergärten. Dort informiert die Stiftung brandenburgische Gedenkstätten am Donnerstag über das Programm zum Jahrestag der Befreiung der KZ Sachsenhausen und Ravensbrück und auch des Zuchthauses in Brandenburg/Havel. In dem Zuchthaus wurden von 1940 bis 1945 mehr als 2000 Menschen aus ganz Europa hingerichtet, darunter der Kommunist und Ringer Werner Seelenbinder, an den jetzt noch einmal extra erinnert wird.

»Die Nazis haben die Menschen zu Nummern gemacht, aber sie waren zu jedem Zeitpunkt Menschen«, unterstreicht Katrin Grüber. Mit diesem Wissen schmerzen sie abwertende Debatten über Geflüchtete und Empfänger von Sozialleistungen. Grüber ist eine Enkelin von Probst Heinrich Grüber. Sie hat ihn als Großvater in Erinnerung, der mit ihr in den Zoo gegangen ist. Der evangelische Geistliche gehörte zur Bekennenden Kirche, die Widerstand gegen Hitler leistete. Das Büro Grüber versuchte, zum christlichen Glauben übergetretene Juden zu unterstützen, denen mit dem Wechsel der Konfession in der Nazizeit nicht geholfen war. Wer als Jude geboren war, wurde von den Faschisten als Jude behandelt und verfolgt – ganz egal, ob sich der Betreffende zum Judentum bekannte oder nicht.

Dass sich Heinrich Grüber bemühte, den Verfolgten zur Flucht ins Ausland zu verhelfen oder sie sonst wie zu unterstützen, war den Nazis ein Dorn im Auge. Grüber predigte auch gegen den Personenkult um Hitler und wandte sich gegen die Zwangssterilisation von Mitmenschen. Die Faschisten steckten den Theologen in die Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen, wo er gefoltert wurde. Kommunistische Häftlinge retteten Grüber das Leben. Er starb 1975.

»Die Nazis haben die Menschen zu Nummern gemacht, aber sie waren zu jedem Zeitpunkt Menschen.«

Katrin Grüber Enkelin eines KZ-Häftlings

Vor 80 Jahren sei der blutigste Krieg der Geschichte beendet und Nazideutschland besiegt worden, sagt Brandenburgs Kulturstaatssekretär Tobias Dünow (SPD), unzählige Menschen seien aus den Konzentrationslagern befreit worden. »Der Holocaust bleibt aufgrund seiner systematischen Ausführung, seiner unvorstellbaren Unmenschlichkeit einmalig. Der Gegenentwurf zum NS-Totalitarismus sind der freiheitliche Verfassungsstaat, die plurale Gesellschaft und die moderne Demokratie mit Minderheitenschutz«, erklärt Dünow. »Doch regen sich heute wieder Stimmen, die diese Errungenschaften hinterfragen. Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus nehmen zu, während das Wissen über den Holocaust schwindet. Umso wichtiger ist die Arbeit der Stiftung brandenburgische Gedenkstätten.«

Dünow zuckt nach eigener Aussage immer ein bisschen zusammen, wenn jemand erklärt, die Gedenkstätten seien gerade jetzt wichtig. Denn das lege den falschen Verdacht nahe, es könnte Zeiten geben, in denen sie nicht wichtig wären. Eingedenk dessen will sich der Kulturstaatssekretär bemühen, bei dem Termin in der Landesvertretung nichts dergleichen zu sagen. Da muss er sich allerdings sehr zusammenreißen, wie er erklärt. Denn am Tag zuvor erlebte Dünow im Kulturausschuss des Landtags etwas, das er nicht für möglich gehalten hatte. Stiftungsdirektor Axel Drecoll war eingeladen, die Abgeordneten über die Vorbereitungen auf den 80. Jahrestag der Befreiung in Kenntnis zu setzen.

Am 8. Mai 1985 hatte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) in einer Rede Sätze gesagt, die in der DDR gesprochen etwas Selbstverständliches gewesen wären, aber in der alten Bundesrepublik lange auf sich warten ließen. Denn dort empfanden nicht nur unverbesserliche Altnazis das Ende des Zweiten Weltkrieges als schmerzliche Niederlage. Da nun meinte Richard von Weizsäcker 1985 endlich: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.«

Spätestens seitdem sollte es doch übereinstimmende Meinung sein, dass der 8. Mai 1945 eine Befreiung bedeutete, glaubt Kulturstaatssekretär Dünow. Er zeigt sich am Donnerstag »erschüttert«, dass ein Landtagsabgeordneter dies am Mittwoch infrage gestellt habe. Gemeint ist damit der Abgeordnete Dominik Kaufner (AfD). Kaufner ist 42 Jahre alt. Er stammt aus dem niederbayerischen Mainburg, studierte an der Universität Regensburg und lebt inzwischen in Dallgow-Döberitz. Die letzten neun Jahre vor seinem Einzug in den Landtag Ende 2024 unterrichtete Kaufner Englisch und Geschichte an einem Gymnasium in Berlin. Befragt nach seinem eigenen Geschichtsbild sagte er Mitte Januar: »Ein positiver Bezug zur deutschen Geschichte gehört für mich dazu.«

Seinerzeit gab es Streit und Proteste, weil die AfD Kaufner als Vorsitzenden des Bildungsausschusses vorgeschlagen hatte. Angeblich gehörte er jedoch zu 11 von 30 AfD-Landtagsabgeordneten, die vom Verfassungsschutz als Rechtsextremisten eingestuft sein sollen. Auf eine parlamentarische Anfrage antwortete das Innenministerium der AfD-Fraktion allerdings kürzlich, dass Kaufner vom Geheimdienst nicht als gesichert rechtsextrem geführt werde. Die AfD will, dass er nun doch noch zum Ausschussvorsitzenden gewählt wird. Bei der Abstimmung im Januar war er durchgefallen.

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