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Erich Fromm: Ratgeber in bedrohten Zeiten

Wegbegleiter und Herausgeber Rainer Funk über Leben und Werk von Erich Fromm

  • Interview: Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 5 Min.
Er gehörte zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jarhhunderts: Erich Fromm.
Er gehörte zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jarhhunderts: Erich Fromm.

Herr Funk, Sie waren in den 70er Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent von Erich Fromm und Sie waren am Entstehen des Buches »Haben oder Sein« von 1976 beteiligt. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit?

Ich besorgte Literatur zum Thema, recherchierte zu bestimmten Fragen, und zusammen sprachen wir über seine Texte. Zwei- bis dreimal in der Woche war ich für mehrere Stunden bei ihm.

Sie bezeichnen den Titel als »Kultbuch für eine Generation«. Dieses Buch scheint heute aber aktueller denn je?

In den 70er Jahren hatten viele Menschen den Wohlstand und das ewige Streben nach Immer-mehr satt. Sie suchten nach alternativen Modellen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es kam vor, dass Menschen nach der Lektüre von »Haben oder Sein« ihr Auto verkauften und wieder Fahrrad fuhren. Es war so etwas wie eine Aufbruchstimmung. Angesichts gegenwärtiger Krisen ist das Buch sicher noch aktueller. Allerdings glaubt man nicht mehr an die transformative Kraft eigener Kräfte, sondern an die des Einsatzes von KI und Technik.

Warum glaubt der Mensch nicht mehr an seine eigenen Kräfte in diesen Krisenzeiten?

Salopp gesagt, weil es die Maschine besser kann. Warum sollten wir uns noch selbst anstrengen und eigene Gedanken entwickeln, wenn es dazu Programme und Tools gibt?

Interview

Das Werk des Psychoanalytikers und Soziologen Erich Fromm spiele heute »in der medialen Öffentlichkeit kaum eine Rolle«, schreibt der Herausgeber Rainer Funk im Vorwort zur Anthologie »Humanismus in Krisenzeiten«. Vertieft man sich in die Schriften des am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geborenen und am 18. März 1980 in der Schweiz gestorbenen Psychologen und Philosophen, wirken dessen Erkenntnisse und Analysen brennend aktuell und hilfreich für unsere Zeit. Funke, Jg. 1943, studierte Theologie und Philosophie und promovierte in Psychologie. Er war Lehrbeauftragter unter anderem in Bremen, Fulda und und ist seit 2014 Vorstandsmitglied der Erich-Fromm-Stiftung sowie Direktor des Erich-Fromm-Instituts in Tübingen.

Laut eigener Aussage entwickelte sich Erich Fromm als Jugendlicher zum Pazifisten. Er bezweifelte die Beteuerungen der Kriegsparteien, glaubte der Propaganda nicht mehr. »Der Krieg wurde als Kampf für die Freiheit hingestellt«, schreibt er in »Jenseits der Illusionen« über seine Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. Klingt vertraut, oder?

Wer Fromms Analysen der Kriegspropaganda und politischer Feindbildkonstruktionen liest, wird bestürzt sein, wie sich Spaltungen und Projektionen in Politik und Medien heute wieder einstellen, etwa im Ukraine-Krieg. Kaum acht Wochen dauerte es, dann hieß es, Gewalt müsse nicht bloß abgewehrt, sondern durch stärkere Gegengewalt »besiegt« werden. Dadurch aber erzeugt man eine Gewaltspirale.

Sehen Sie einen Ausweg?

Die Schuldfrage müsste hintangestellt werden. Oberstes Ziel sollte es sein, das Töten und Zerstören zu beenden.

Wir befinden uns in der westlichen Zivilisation in einer aufgeladenen Stimmung, das Freund-Feind-Denken nimmt zu, die Polarisierung wächst. Was sind Ursachen für dieses Lagerdenken?

Polarisierungen sind psychologisch immer ein Hinweis darauf, dass Menschen sich bedroht fühlen und das Eigene sichern wollen. Klimawandel, Kriege, Turbokapitalismus, verstärkte Ungleichheiten, digitale Revolution – all das führt dazu, dass sich Menschen massiv bedroht, verunsichert und zunehmend ohnmächtig fühlen.

Gibt es Auswege aus dieser Ohnmacht?

Entweder man rüstet so gewaltig auf, dass man sich nicht mehr bedroht und ohnmächtig fühlt. Oder man verleugnet die ohnmächtigen Gefühle und fantasiert sich stattdessen in eine eigene Großartigkeit. Dieser Weg führt uns geradewegs zu Trumps »America first«-Politik, kennzeichnet aber auch alle rechtspopulistischen Politiken. Und gleichzeitig wird alles, was diesem Eigenen nicht dienlich ist, verteufelt und bekämpft. Wir sprechen dann von einer narzisstischen Logik.

Liegt alles Leiden der Menschheit im Narzissmus? Das eigene Handeln nicht zu bedenken, das Handeln des anderen nicht zu hinterfragen?

Im Unterschied zu anderen Psychologen wird der Mensch nach Erich Fromm als soziales Wesen geboren, Narzissmus ist nicht sein Schicksal. Gleichwohl ist die narzisstische Spaltung im Einzelnen und im gesellschaftlichen Miteinander eine Möglichkeit, die es nur beim Menschen gibt. Das gefährdet ein humanes und soziales Miteinander.

Der Gruppennarzissmus sorgt für die Gefolgschaft, in Parteien, hinter Machthabern, hinter Parolen und Propaganda. Warum ist der Mensch so anfällig für Verführung und Gefolgschaft?

Sicher spielen hier der Wunsch dazuzugehören, die Macht der sozialen Medien und andere Faktoren eine wichtige Rolle. Aus psychologischer Sicht entscheidend ist aber, wie die Menschen versuchen, ihre Ängste, ihre Wut, ihre Unsicherheit, ihre Ohnmacht überwinden wollen.

»Haben oder Sein« – »Kultbuch für eine Generation«. Wie erklärt sich die Habgier von Milliardären? Ist das reine Sucht?

Die grenzenlosen Möglichkeiten digitaler Technik und das entfesselte neoliberale Wirtschaften führen dazu, dass viele Menschen nach Grenzenlosigkeit streben und nie genug haben. Das ist ein neues Verständnis von Freiheit, das wie eine Sucht den Menschen in Beschlag nehmen kann. Würde Fromm »Haben oder Sein« heute schreiben, ginge es darum, vom Wunsch nach Grenzenlosigkeit zu erzählen.

Erich Fromm war Jude, er verließ Deutschland rechtzeitig vor den Verfolgungen der Nazis, lebte in den USA, in Mexiko, am Ende seines Lebens in der Schweiz. Warum spielte die Erforschung des Exils in seinen Publikationen keine große Rolle?

Fromm lebte seit 1931 wegen einer Lungenerkrankung in der Schweiz und siedelte bereits 1934 nach New York über. Kennzeichnend für Fromm ist sicher, dass er eine ganz schwache nationale Bindung hatte. Er interessierte sich für die Kultur, Gesellschaft und Politik jener Länder, in denen er lebte.

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Erich Fromm verstand sich als Weltbürger und er war ein Universalgelehrter.

Ja, und sein großes wissenschaftliches Werk zielt vor allem darauf, die eigene gesellschaftliche Prägung kritisch zu sehen, für alle anderen Möglichkeiten individuellen und gesellschaftlichen Menschseins aber offen zu sein.

Gibt es Hoffnungen, dass die aktuelle Entwicklung nicht in kompletter Verwüstung der Erde oder in Weltkriegen endet?

Diese Frage hat Fromm schon 1962 gequält, als die Menschheit mit der Kubakrise kurz vor Ausbruch eines atomaren dritten Weltkrieges stand. Seine schlimme Ahnung war damals, dass die Gleichgültigkeit gegenüber der akuten Bedrohung Ausdruck einer mehr unbewussten als bewussten Feindseligkeit gegen das Leben sein könnte. Fromm appellierte damals an die Liebe zum Lebendigen, er plädierte für einen universalen Humanismus. Der Liebe zum Leben eine Stimme zu verleihen, das wäre seine Botschaft auch für heute.

Erich Fromm: Humanismus in Krisenzeiten. Texte zur Zukunft der Menschheit. Hg. v. Rainer Funk. Deutscher Taschenbuchverlag, 256 S., br. 14 €.
Erich Fromm: Die Kraft der Liebe. Über Haben und Sein, Liebe und Gewalt. Leben und Tod. Hg. v. Rainer Funk und einem Nachwort von Gerhard Wehr. Diogenes, 160 S., br., 14 €.
Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Deutscher Taschenbuchverlag, 272 S., br., 11 €.

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