Gregor Gysi: »Unsere Gesellschaft ist gefährdet«

Der Alterspräsident des nächsten Bundestags über Bundeswehr und Ukraine-Krieg, über Stefan Heym, die unvollendete deutsche Einheit und die AfD

Gysi geht in seine neunte Bundestags-Wahlperiode. Auf seinen Plakaten stand: »Übrigens: Zum letzten Mal!«
Gysi geht in seine neunte Bundestags-Wahlperiode. Auf seinen Plakaten stand: »Übrigens: Zum letzten Mal!«

Gregor Gysi, wie oft haben Sie in letzter Zeit die Rede von Stefan Heym gelesen, mit der er 1994 als Alterspräsident den Bundestag eröffnete?

Einmal. Übrigens war ich damals ein bisschen an seinen Vorbereitungen beteiligt. Beim Nachlesen hatte ich einige Déjà-vu-Erlebnisse, denn nicht wenige Probleme, über die er damals gesprochen hat, existieren nach wie vor. Und manche sind schlimmer geworden.

Stimmt es, dass Sie Heym damals überredet haben, für die PDS zu kandidieren?

Ja. Er war ein Kritiker der SED-Führung gewesen, und ich habe ihm gesagt, er sei ja Sozialist und könne für die reformierte PDS kandidieren, ohne Mitglied zu werden, das wäre ein wichtiges politisches Signal. Allerdings bekam ich ein schlechtes Gewissen, als ihn einen Tag vor der Konstituierung des Bundestags der damalige CDU-Innenminister Kanther denunzierte. Mit einem konstruierten Stasi-Verdacht, der sich einen Tag nach der Rede als falsch herausstellte. Man wollte die Rede verhindern, und als er sie trotzdem hielt, weigerte sich die CDU/CSU-Fraktion aufzustehen, als er den Saal betrat.

Was hat sich seitdem in der politischen Kultur geändert?

Der Umgang mit uns hat sich nach anfänglichen erheblichen Schwierigkeiten versachlicht. Allerdings stimmt die politische Kultur überhaupt nicht mehr, seit die AfD im Bundestag ist. Nur ein kleines Beispiel: Im Haus der parlamentarischen Gesellschaft gibt es ein Restaurant mit einem kleineren und einem größeren Raum. Ohne dass es jemals so eingeteilt wurde, sitzen in dem kleinen Raum immer die AfD-Abgeordneten und in dem anderen Raum die aus allen anderen Fraktionen. Und es gibt keine gegenseitigen Besuche.

Finden Sie das richtig oder falsch?

Völlig richtig. Ich rede eigentlich mit allen, aber wenn da zwei, drei AfD-Leute mit am Tisch wären, das wäre mir unangenehm.

Interview

Seit Längerem arbeitet Gregor Gysi an seiner Rede zur Eröffnung des nächsten Bundestags. Als Alterspräsident die Konstituierung des Parlaments zu leiten, mit unbegrenzter Redezeit, das hat sich zum Running Gag in seinem Wahlkampf entwickelt. Seit 1990 gehört der Berliner Rechtsanwalt und populärste Linke-Politiker mit einer kurzen Unterbrechung dem Bundestag an – so lange wie kein anderer Abgeordneter. Als wir zum Interview in sein Parlamentsbüro kommen, geht der 77-Jährige gerade die protokollarischen Pflichten des Alterspräsidenten durch. Kaum ist das Interview beendet, fällt ihm noch ein Satz für die Rede ein, der sofort diktiert werden muss. Natürlich, die Gedanken sind in Bewegung – so eine Rede hält man nur einmal. Zwischendurch sprechen wir über Fragen, die ihn in diesen Zeiten bewegen.

In Ihrer allerersten Bundestagsrede am 4. Oktober 1990 – einen Tag nach Herstellung der deutschen Einheit – plädierten Sie für eine gerechte und differenzierte Beurteilung der DDR und ihrer Bürger. Wie nahe sind wir diesem Anspruch jetzt, 35 Jahre später?

Immer noch meilenweit davon entfernt. Weil sie sich nie wirklich mit der DDR beschäftigt haben.

Wer ist »sie«?

Die Bundesregierung, die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, die anderen Fraktionen.

Das sagen Sie trotz einer Kanzlerin Angela Merkel?

Sie stand unter dem Druck, den Bayern zu beweisen, dass sie so wenig ostdeutsch ist, dass man sie trotzdem wählen kann. Und deshalb hat sie für den Osten wenig getan, finde ich. Man hat die DDR reduziert auf Mauertote und Staatssicherheit. Das gab es, das muss aufgearbeitet werden. Aber die Politik hat sich nicht für das Leben in der DDR interessiert und hat deshalb fast nichts aus der DDR übernommen. Außer dem Ampelmännchen, dem Sandmännchen und dem grünen Abbiegepfeil. Aber was ist mit der Gleichstellung der Geschlechter, den Kindereinrichtungen, den Polikliniken? Ich finde, die Fehler im Umgang mit dem Osten müssten mal eingestanden werden. Da war vieles sehr kurzsichtig, aus der Haltung des Siegers. Man kann aber irgendwann auch mal aufhören zu siegen.

Was hat Sie bei der Bundestagswahl mehr überrascht: dass Die Linke zuletzt so durchgestartet ist oder dass es diesen unglaublichen Zustrom neuer Mitglieder gab?

Beides. Als Bodo Ramelow, Dietmar Bartsch und ich die Mission Silberlocke gestartet haben, sind wir davon ausgegangen, dass wir dadurch erst mal wieder in die Medien kommen. Und dass wir die Alten erreichen. Was wir alle drei nicht wussten: Wie reagiert die Jugend? Aber wo wir auch waren, überall kamen die jungen Leute. Und dann kamen die Reden von Heidi Reichinnek, das war ein richtiger Schub. Viele von den jungen Leuten sind nicht so sehr wegen inhaltlicher Punkte zu uns gekommen, sondern vor allem erst mal wegen unserer Haltung, als CDU, CSU, FDP und BSW zusammen mit der AfD ein Gesetz beschließen wollten, das ohne die AfD keine Mehrheit bekommen hätte. Heidis Reden waren beeindruckend.

Sie waren lange PDS-Vorsitzender – wären Sie gerne noch mal Vorsitzender einer plötzlich so jungen und lebendigen Partei?

Nein, schon aus Altersgründen nicht. Als ich Vorsitzender war, ab Ende 1989, ging es um die Existenz der PDS, sie stand am Abgrund. Damals wurde ich draußen angespuckt, angegriffen, alles Mögliche, und die Partei hat mich gepflegt, aufgebaut und wieder rausgeschickt. Und als ich draußen nicht mehr so verprügelt wurde, haben sie wohl gedacht, dem fehlt jetzt was. Dann bekam ich die Prügel in der Partei. Eine fantastische Dialektik.

Das BSW ist bei der Wahl knapp gescheitert. Ist das Ihrer Meinung nach gut, weil sie die AfD normalisieren, oder schlecht, weil nun viele Wähler nicht im Parlament vertreten sind?

Das ist im Grunde die Diskussion über die Fünf-Prozent-Hürde. Die wollten wir abschaffen, aber das Bundesverfassungsgericht hat sie aufrechterhalten mit der Begründung, man brauche stabile Verhältnisse. Nun ist das BSW knapp drunter geblieben. Ich habe Sahra in unserem letzten Gespräch gesagt: Ihr seid am Anfang erfolgreich und dann zerbröselt ihr. Und ihnen kam ja noch entgegen, dass die Wahl schon im Februar war. Im September, wie es ursprünglich geplant war, hätten sie noch weniger Stimmen bekommen.

Wie erklären Sie Leuten, die gegen Aufrüstung und Krieg sind, gegen den Kurs von Merz und seiner künftigen Koalition, dass Die Linke auch in diesem Punkt nichts zusammen mit der AfD macht? Vom BSW wurde sie dazu aufgerufen.

Wieso sollten wir? Wenn es Abstimmungen zu Rüstungsmilliarden gibt, kann Die Linke doch dagegen stimmen und die AfD auch. Was deren Wählerinnen und Wähler bloß nicht sehen, ist, dass die AfD bisher allen Aufrüstungsbeschlüssen und allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr zugestimmt hat. Wir nie.

Gegen das Sondervermögen zur Aufrüstung und die Lockerung der Schuldenbremse dafür war die AfD.

Beim Sondervermögen war die AfD gegen die Schulden für Investitionen in die Infrastruktur. Die Rüstungskosten waren gar nicht ihr Problem. Und zweitens wollte sie, dass nicht der alte Bundestag entscheidet, weil im neuen Bundestag Union, SPD und Grüne entweder Die Linke oder die AfD brauchen, um mit Zwei-Drittel-Mehrheit das Grundgesetz zu ändern. Und da hofft die AfD, dass die Union die Zusammenarbeit mit ihnen sucht. Mit uns braucht die Union in Rüstungsfragen gar nicht erst zu reden.

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Seit mehr als drei Jahren führt Russland Krieg in der Ukraine. Ist es nicht ein Armutszeugnis für die deutsche und europäische Politik, dass US-Präsident Trump in kurzer Zeit Verhandlungen erzwungen hat, was andere ewig nicht zustande bringen konnten oder wollten?

Leider kam bisher nie eine Initiative für einen Waffenstillstand von einem Nato- oder EU-Staat. Es gab solche Initiativen nur von Brasilien, China und Südafrika, aber die wurden nicht unterstützt. Stattdessen hieß es immer: Putin will ja nicht. Dahinter steckte auch der Glaube, man könne Russland militärisch besiegen. Leute, die was vom Militär verstehen, sagen aber schon lange: In diesem Krieg kann keine Seite siegen. Jetzt kommt die Initiative von Trump, und es wird zum Nachteil der Ukraine ausgehen. Denn Russland und der Ukraine-Krieg sind nicht das Hauptproblem für Trump. Das ist China.

Und davon profitiert Putin?

Trump will das Problem schnell weg haben, zumal er es versprochen hat. Da kann Putin nicht einfach Nein sagen. Er kann und will aber auch nicht einfach Ja sagen. Deshalb stellt er Bedingungen, und da wird Trump ihm entgegenkommen. Die hinter Trump stehenden Eliten schauen vor allem nach China, weil sie davon ausgehen, dass China die USA wirtschaftlich überholen könnte. Unter anderem, weil China autoritär strukturiert und dadurch schneller und effizienter sei. Deshalb wollen sie autoritäre Strukturen auch in den USA und drängen europäische Länder dazu. Da gerät unsere Gesellschaft wirklich in Gefahr. Wir stehen von außen unter Druck durch die USA und von innen durch die AfD, deren Stimmen sich verdoppelt haben.

Die AfD hat inzwischen eine sehr verfestigte Wählerschaft, auch im Westen. Wie kann man das wieder auflösen?

Ich glaube, die meisten Parteien begehen folgenden Fehler: Sie klauen das eine oder andere von der AfD in der Hoffnung, deren Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Aber die bekommen sie nicht, sondern sie legitimieren damit nur die Wahl der AfD. Wir haben in der Linken über unsere Versäumnisse nachgedacht und festgestellt, dass wir den Osten etwas vernachlässigt haben. Weil wir damals dachten, jetzt käme die große Stunde in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Das war ein Irrtum, und deshalb ändern wir das wieder. Auch indem wir wieder eine Kümmererpartei werden. Die anderen Parteien müssen genauso über sich nachdenken.

In der Debatte über Sicherheit, Krieg und Frieden plädieren Sie für eine europäische Armee. Wo ist da der Unterschied zu Konservativen, Grünen, Sozialdemokraten?

Sie wollen alle bei den nationalen Streitkräften bleiben, die jetzt mit diesen wahnsinnigen Milliardensummen aufgerüstet werden sollen. EU-Truppen wollen sie höchstens zusätzlich. Ich finde, eine EU-Armee sollte die nationalen Streitkräfte ersetzen.

Was wäre daran besser?

Erstens bin ich als Anhänger der europäischen Integration dafür. Und zweitens wäre daran besser, dass man nur zusammen Verteidigungsaufgaben übernehmen könnte. Es könnte nicht mehr jeder Staat einzeln irgendwo intervenieren, wie in Libyen, oder den USA in irgendwelchen Allianzen helfen, wie im Irak. Natürlich müssten EU-Streitkräfte verteidigungsfähig sein, wie jetzt auch die Bundeswehr. Aber eben nur verteidigungsfähig, nicht angriffsfähig, das ist ein großer Unterschied.

Bisher waren Sie außenpolitischer Sprecher der Linken im Bundestag. Wie müsste deutsche Außenpolitik in Zeiten wachsender Konfrontation aussehen?

Wir brauchen endlich eine Regierung, die begreift, dass wir ein souveräner, freier, unabhängiger Staat sind, dass sie eigene Interessen artikulieren darf und dafür streiten kann, auch mit Trump. Die DDR war nicht souverän, sondern abhängig von der Sowjetunion. Und die alte Bundesrepublik war auch nicht souverän, weil sie dachte, dass sie von den USA abhängig ist. Das muss endlich überwunden werden. In dem Zusammenhang ist die europäische Integration wichtig, weil die kleinen Nationalstaaten alleine gegenüber den Großmächten nichts zu bestellen haben. Nur als EU sind wir ein Faktor, der wahrgenommen werden muss und deshalb ist ja Trump auch gegen die EU. Er wird einige Regierungen nett behandeln – in Italien und Ungarn zum Beispiel – und andere nicht. Die Bundesregierung wird er nicht gut behandeln, auch wenn Merz das glaubt. Aber von den deutschen Parteien finden Trump und sein Umfeld nur die AfD gut.

Sehr wahrscheinlich wird die nach rechts gerückte Merz-und-Söder-Union mit der SPD koalieren. Sehen Sie eine Möglichkeit, in den nächsten vier Jahren wieder die Option auf eine Mitte-links-Mehrheit aufzubauen?

Die Opposition muss versuchen, den Zeitgeist zu verändern, gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern von Kunst und Kultur, der Wissenschaften, der Medien, den Gewerkschaften und Kirchen, vielleicht auch der Unternehmerverbände. Wir müssen das mehrheitliche Denken und Fühlen verändern, so wie es uns beim flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn gelungen ist. Diesmal geht es um die Frage der Abrüstung statt der Aufrüstung.

Jetzt gehen Sie in Ihre neunte Bundestags-Legislatur. Was wünschen Sie sich, wie man sich einmal an den Politiker Gysi erinnern sollte?

Wenn es heißt: Egal, welche Auffassungen er hatte, ehrlich war er – das würde mir genügen.

Da Sie immer auch ein Mann der Neuanfänge waren – war es wirklich die letzte Kandidatur?

Ich bitte Sie, bei der nächsten Wahl bin ich 81. Es gibt ja Grenzen. Ich habe mal gesagt, ich verlasse den Bundestag, wenn die innere Einheit Deutschlands hergestellt ist. Damals dachte ich, das sei eine angemessene Drohung, aber es hat wohl doch nicht so viel Eindruck gemacht. Jedenfalls geben sich die anderen keine große Mühe dahingehend. Und so lange kann ich doch nicht warten. Auf meinen Wahlplakaten stand: »Übrigens: Zum letzten Mal!« Da hat jemand drübergeschrieben: »Versprochen?« Ja, versprochen.

Dürfte man nicht zweimal Alterspräsident werden?

Doch. Aber dann wiederhole ich mich ja nur.

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