Die revolutionäre Maschine

In »Skyrmionen. Oder: A Fucking Army« inszeniert Dietmar Dath die Überwindung von Kapitalismus und Digitaltechnologie

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 6 Min.
Was kommt eigentlich nach der Digitalisierung? Die Bartmode von Dietmar Dath?
Was kommt eigentlich nach der Digitalisierung? Die Bartmode von Dietmar Dath?

Was kommt eigentlich nach der Digitalisierung? Ist diese technische Revolution, die jetzt in den USA unter Donald Trump noch forciert wird, irgendwann auch zu Ende? Oder anders gefragt: Kann oder muss die Digitalisierung, die in ihrer derzeitigen Ausformung eng mit kapitalistischer Wertschöpfung verknüpft ist, eigentlich überwunden werden?

Das erkundet Dietmar Dath auf absolut faszinierende Weise in seinem neuen, opulenten, fast 1000 Seiten dicken Roman »Skyrmionen. Oder: A Fucking Army«. Im Zentrum der Geschichte steht Renate Hofer. Sie stürzt als Kind in ein mit Neuropeptiden versetztes Abwasserbecken im Labor ihres reichen Vaters. Während einer drogeninduzierten Erleuchtung wird ihr als Jugendliche klar, dass sie eine Maschine bauen wird, die die Welt verändert. Dieser Prozess beginnt im ausgehenden 20. Jahrhundert und dauert bis in die 2070er Jahre, wenn die Maschine Gestalt annimmt in der Größe einer Stadt mit Zehntausenden Bewohnern. Sie muss einen schrecklichen Angriff abwehren, um sich selbst zu vollenden und endlich zum Laufen zu kommen.

»Skyrmionen. Oder: A Fucking Army« ist ein weit ausschweifendes Prosagebilde, ähnlich groß, komplex und kompliziert wie die vor allem aus Sprache hergestellte Maschine, die Renate Hofer schließlich baut, aber dazu auch jede Menge Beton, Glas und andere Stoffe benutzt. Was kann Sprache, wie begrenzt ist sie oder was kann mit ihr gemacht werden? Diese zentrale Frage stellt der Roman immer wieder und lässt seine unzähligen Figuren darüber in ausufernden Diskussionen streiten, Texte schreiben, wissenschaftliche Forschung betreiben, Kunstwerke fabrizieren, um schließlich die digitale Welt ebenso wie den Kapitalismus hinter sich zu lassen.

Diese Generationenaufgabe ist aber kein durchweg emanzipatorisches Projekt. Hofer, »die böse Heldin«, wie sie Dietmar Dath Ende Februar auf einer digitalen Vorab-Buchvorstellung treffend nannte, ist sehr reich und geht kompromisslos gegen alle Widerstände vor, inklusive Folter und Mord. Lässt sich die Milliardärstochter, die mit ihrem Erbe die Welt verändert, als Allegorie auf Lenin lesen?

Lässt sich die Milliardärstochter, die mit ihrem Erbe die Welt verändert, als Allegorie auf Lenin lesen?

Hofer fährt zumindest irgendwann in einer gepanzerten Eisenbahn durch China wie Lenin einst im plombierten Zug von der Schweiz, wo auch die Milliardärstochter herkommt, nach Russland. »Das heißt, dass deine Mutter gern Revolutionärin spielt und weltgeschichtliche Persönlichkeit. Und dass sie denkt, die chinesische Kommunistische Partei würde ihrer Sache, der Maschine, genauso gern und so gut helfen wie der deutsche Kaiser damals dem russischen Kommunisten, den sie gerade nachmacht«, sagt Hofers Ehemann seiner Tochter.

Auch wenn sich im Textkorpus von »Skyrmionen. Oder: A Fucking Army« längere essayistische Abschnitte über den Marxismus-Leninismus finden, sollten allzu einfache Allegorien dennoch vermieden werden. Dazu ist das Dath’sche Œuvre gerade in diesem Buch zu komplex.

In alle Richtungen – auch ins eigene Werk hinein – werden unzählige Fährten ausgeworfen. Figuren aus seinen anderen Büchern tauchen hier als Neben-Acts auf, darunter auch Cordula Späth, die schon seit Jahrzehnten durch die Dath’sche Prosa geistert. Es gibt diverse Verweise auf seine Romane »Neptunation«, »Der Schnitt durch die Sonne« und »Feldeváye«, und auch Dietmar Dath selbst tritt mehrfach auf als Lohnschreiber von Hofer, der meist entsetzt ist über die Machenschaften der reichen Frau, aber brav seine Arbeit macht. Ein sympathisch selbstironischer Seitenhieb auf Literaturbetrieb und Journaille.

Über weite Strecken ist »Skyrmionen. Oder: A Fucking Army« keine ganz einfache Lektüre. Es geht in zum Teil sehr dialog- und monologreichen, vor sich hin mäandernden Abschnitten um Wissenschafts- und Technikgeschichte, Mathematik, Physik, Sprachwissenschaft und Philosophie. Wobei es aber viel martialische Action, Fantastisches aus der Zukunft und Kampfgetümmel gibt. Von Basel geht es an die Ostküste der USA, nach Shenzhen in China nach Berlin und an viele andere Orte der Erde und schließlich auch auf Raumstationen und auf den Mond. Was in unserer Gegenwart beginnt, mündet in eine wilde Science-Fiction-Geschichte, in der Hofers Maschine von einem feindlichen Kommando angegriffen wird und sich die Bewohner der stadtförmigen Maschine verteidigen müssen.

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Nicht alle sind Menschen. Es gibt auch Hunderte Diffpersonae, die weder Maschine noch kohlenstoffbasierte Lebewesen sind, sondern wiedererweckte Menschen aus der Vergangenheit, darunter natürlich auch viele Wissenschaftler, unter anderem der aus Großbritannien stammende theoretische Physiker Tony Skyrme. Nach diesem sind die titelgebenden Skyrmionen benannt, kleinste Wirbel, die sich wie Teilchen verhalten, genauso wie die scheinbar unendlich vielen verschiedenen, ineinandergreifenden und einander anstoßenden Figuren, Anekdoten, Geschichten, Ereignisse, Kämpfe, Hoffnungen und Sehnsüchte, aus denen sich dieses Buch zusammensetzt.

In der science-fictionalen Maschine sind viele heute gültige Regeln aufgebrochen, unter anderem ist in dieser kommunitären Gemeinschaft der Kapitalismus überwunden. Außerdem können Juni und Ali Hofer, die Töchter von Renate Hofer, fliegen und sich mit anderen technisch erweiterten Bewohnern der Stadt vernetzen, in der auch jede Menge Tiere und neuartige Mutationen leben. Diese Stadt befindet sich dort, wo heute Berlin steht, heißt es an einer Stelle. Nur ist die Welt der Zukunft in diesem Roman weitgehend zerstörtes Wasteland, in dem die alles verschlingenden »Falschen Farben« aus Daths Roman »Gentzen. Oder: Betrunken aufräumen« wüten oder Zombotiker alles zerstören, was nicht schon durch Kriege oder Klimawandel plattgemacht wurde.

Aber die größte Gefahr für die Menschen in Kerven Tau oder Soncha Kapa (ausgeliehen bei der SF-Serie »The 100«), wie die Stadt schließlich heißt, ist ein Mann, der schon als Kind von einer Psychose heimgesucht wurde und ein ganz anderes Verhältnis zu Sprache hat. Während Renate Hofer die unbeschränkten Möglichkeiten der Sprache zum Bau ihrer Maschine nutzt, ist ihr Gegenspieler Emil Kurland davon überzeugt, dass es Sprache eigentlich gar nicht gibt. Mit seinem unbändigen Hass versucht er die Maschine zu zerstören, was viele Leser an jene politischen Kräfte erinnern dürfte, die derzeit eifrig dabei sind, die Demokratie zu schleifen. Dementsprechend ist Soncha Kapa Inbegriff einer fantastisch-diversen Welt voller unglaublicher Wesen und jeder Menge freier Sexualität, die auch weit jenseits unserer heutigen gesellschaftlich-kapitalistischen Zurichtung liegt.

»Skyrmionen. Oder: A Fucking Army« bricht prismatisch Daths eigenes literarisches Werk, seine politischen Analysen und Sehnsüchte, als würden die vielen unterschiedlichen Fäden seiner Arbeit in diesem nicht immer einfachen Buch hier zusammenfließen, wobei der mittlerweile 55-jährige Autor noch mehr als sonst die Formen des gängigen Romans aufbricht. Was genau Renate Hofers Maschine am Ende macht, was sie kann und was Menschen, Diffpersonae und andere Lebewesen mit ihr anstellen, wird nicht verraten.

Dietmar Dath: Skyrmionen. Oder: A Fucking Army. Matthes & Seitz, 976 S., geb., 38 €.

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