S-Bahn-Ausschreibung kommt endlich in die nächste Phase

Frist für verbindliche Angebote endete am Donnerstag – erneute Klagen zu erwarten

West-Berliner Schätzchen auf Abruf: Die Baureihe 480 verdient ihr Gnadenbrot inzwischen auf der S3.
West-Berliner Schätzchen auf Abruf: Die Baureihe 480 verdient ihr Gnadenbrot inzwischen auf der S3.

»Wir haben den gordischen Knoten durchschlagen«, verkündet Berlins Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) am Donnerstagvormittag im Plenum des Abgeordnetenhauses. Gemeint ist die Ausschreibung für neue Fahrzeuge und den Betrieb auf zwei Dritteln des Berliner S-Bahnnetzes.

Bis zwölf Uhr am Donnerstag hatten die Bieter in dem Verfahren Zeit, ihre verbindlichen Angebote auf die Server des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB) hochzuladen. Er führt technisch das Verfahren im Auftrag der beiden Länder.

1400 Wagen für zehn Linien

Es geht um die Beschaffung von 1400 neuen Wagen, deren Wartung sowie den Betrieb auf den Ost-West-Linien S3, S5, S7, S75 und S9 des Teilnetzes Stadtbahn und auf dem Teilnetz Nord-Süd mit den Linien S1, S2, S25, S26 und S85.

Die Verträge für die Teilnetze bestehen je aus drei Komponenten: dem Kauf der neuen S-Bahn-Wagen durch das Land Berlin zu derzeit geschätzten Kosten von 5,6 Milliarden Euro, der Instandhaltung dieser Flotte für 30 Jahre sowie dem Betrieb der Züge für 15 Jahre – länger laufende Verträge für die Verkehrsleistung sind nicht zulässig.

Dutzende Terminverschiebungen

Dass es sich um eine komplizierte Konstruktion handelt, zeigt schon diese Auflistung. Über zwei Dutzend Male sind Termine für einzelne Etappen der Ausschreibung seit deren Start im Mai 2016 verschoben worden. Damals veröffentlichte der VBB die Vorinformation zum geplanten Start des Vergabeverfahrens. Der Veröffentlichung der konkreten Auftragsbekanntmachung erfolgte im August 2020. Allein der Termin für die nun erfolgte Abgabe der verbindlichen Angebote ist siebenmal nach hinten verschoben worden.

»Die in meiner Amtszeit seit Ende Mai 2024 entschiedenen Fristverschiebungen zur Angebotsabgabe dienten der Rechtssicherheit und der Möglichkeit zur Einarbeitung der neuen Brandenburger Regierung und der Beachtung eines neuen Gutachtens, das im November zu 750 bis 1500 Volt vorgelegt worden ist«, sagt Verkehrssenatorin Bonde im Abgeordnetenhaus.

Überkomplexes Verfahren

Tatsächlich galt das Verfahren ob seiner Komplexität schon bei seiner Konzeption unter Rot-Rot-Grün als schwer juristisch beherrschbar. Denn die Grünen auf der einen Seite sowie SPD und Linke auf der anderen Seite hatten schwer unter einen Hut zu bringende Vorstellungen über das Ergebnis.

Die Grünen hofften auf möglichst viel Wettbewerb und Konkurrenz für die DB-Tochter S-Bahn Berlin GmbH. SPD und Linke wollten einen einheitlichen Betreiber für das S-Bahn-Netz, wofür bei den Themen Betriebsabwicklung und somit auch Stabilität einiges spricht. Nicht zuletzt ging es den roten Parteien auch um Sicherheit für die derzeit bei der S-Bahn beschäftigten Menschen.

Der schließlich gefundene politische Kompromiss machte die für ein rechtssicheres Verfahren nötige Vergleichbarkeit der Angebote zumindest sehr schwierig. Der französische Bahntechnikkonzern Alstom fühlte sich auch prompt benachteiligt, strengte zunächst ein Verfahren bei der Vergabekammer des Landes Berlin an und schließlich auch vor dem Kammergericht Berlin.

Alstom klagt sich durch

Wie im Prozess deutlich wurde, hatte Alstom als Fahrzeugproduzent keinen möglichen Betreiber als Partner im Boot. Die Schienenfahrzeughersteller Siemens Mobility und Stadler Rail hatten für das Verfahren jedoch ein Konsortium mit der S-Bahn Berlin GmbH für ein Angebot aus einer Hand gebildet. Eine entsprechende Prüfung durch das Bundeskartellamt verlief ohne Beanstandungen.

Zuletzt sorgte das von Verkehrssenatorin Ute Bonde genannte Gutachten zu einer Spannungsumstellung bei der S-Bahn für Verzögerungen. Mit einer auf 1500 Volt verdoppelten Fahrspannung könnten erhebliche Investitionen in den Ausbau der Stromversorgung eingespart werden, so das Fazit der von Infrastrukturbetreiber DB Infrago vorgelegten Untersuchung.

Besonders im Südosten Berlins ist die Stromversorgung für den Betrieb der S-Bahn zu schwach ausgelegt, mit mehr Zügen und den geplanten Taktverdichtungen ist der Ausbau zwingend nötig. Aus physikalischen Gründen braucht man weniger neue sogenannte Unterwerke, die den Wechselstrom aus dem öffentlichen Netz in den Gleichstrom für die S-Bahn umwandeln, wenn man auf 1500 Volt statt der seit 1924 üblichen 750 Volt setzt.

Neue Spannung kostet Zeit

Mehr Geld, und vor allem mehr Zeit würde dann aber für den Wagenpark benötigt, wenn die Fahrzeuge von Anfang an mit beiden Spannungen fahren können. Denn die Hersteller haben die Wagen für den erwarteten Auftrag längst weitgehend fertig konstruiert. Eine Doppelausrüstung braucht zusätzliche Technik und damit mehr Platz. Und der ist bei der Berliner S-Bahn deutlich knapper als sonst bei der Eisenbahn, unter anderem wegen des engen Nord-Süd-Tunnels.

Für den zusätzlichen Tüftel- und Kalkulationsaufwand wurden rund neun Monate mehr Zeit veranschlagt, die die Fahrzeughersteller benötigen würden, um ein verbindliches Angebot abzugeben.

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Problematisch sind weitere Verschiebungen vor allem, weil sich 130 Wagen der zusammengenommen 1130 Wagen starken Flotte auf Stadtbahn- und Nord-Süd-Linien rapide dem Ende ihrer Lebensdauer nähern. Planmäßig würden die dann 35 bis 39 Jahre alten Züge von 2029 bis 2032 nach und nach ausgemustert. Ob ihre Lebensdauer noch einmal verlängert werden kann, soll eine aufwändige Untersuchung zeigen, die bis Jahresende 2025 abgeschlossen sein soll. Damit drohen Kürzungen im S-Bahn-Angebot.

Da es keine weitere Fristverschiebung bei der Angebotsabgabe gab, scheinen die Regierungen Berlins und Brandenburgs ein Einsehen gehabt und es bei der bisher vorgesehenen Regelung belassen zu haben. Nämlich, dass eine spätere Umrüstung auf eine höhere Spannung möglich sein soll.

Stadler Rail beklagt Salamitaktik

Der Druck, endlich bei der S-Bahn-Ausschreibung voranzukommen, wuchs stetig. Zuletzt mahnte der Fahrzeugproduzent Stadler Rail bei seiner Bilanzpressekonferenz in der Vorwoche Entscheidungen an. Geschäftsführer Markus Bernsteiner sprach von einer »Salamitaktik« der ewigen Verschiebungen. Seit über vier Jahren warte man auf den Abschluss der Ausschreibung.

Geöffnet werden die Angebote am Freitag und anschließend geprüft. Der Zuschlag soll im dritten Quartal dieses Jahres erfolgen. Die Betriebsaufnahme auf den beiden Teilnetzen ist schrittweise ab Februar 2031 geplant.

Doch dieser Zeitplan dürfte nicht zu halten sein. Mit einem bis zwei Jahren Verzögerung ist noch zu rechnen, bis tatsächlich die ersten neuen S-Bahnzüge im Netz rollen werden. Denn es ist davon auszugehen, dass Alstom erneut den Rechtsweg beschreiten wird, wenn der Konzern nicht den Zuschlag erhält. Was wiederum recht wahrscheinlich ist ohne einen Betreiber als Partner.

Wer sich tatsächlich am Donnerstag verbindlich für Fahrzeugbau und Betrieb auf dem Berliner S-Bahn-Netz beworben hat, wissen allerdings sicher nur wenige Menschen. Denn das Vergabeverfahren ist geprägt von strengen Verschwiegenheitspflichten. Überraschungen sind demnach nicht ausgeschlossen.

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