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100. Todestag von Rudolf Steiner: Der Proto-Schwurbler
Vor 100 Jahren starb Rudolf Steiner, der Gründer der Anthroposophie. Sein Werk verbindet esoterische Mystik mit Rassismus und Antisemitismus
Die Anhänger*innen der Anthroposophie begehen am 30. März 2025 den 100. Todestag ihres Begründers Rudolf Steiner. In Hamburg etwa findet eine »Lange Nacht der Anthroposophie« statt, in der Besucher*innen etwas über die einflussreichste esoterische Gruppe in Deutschland erfahren, über Karma und Reinkarnation, über Meditation und Selbstschulung, Waldorfschule und biologisch-dynamische Landwirtschaft. Die Initiative »Danke Rudi« fordert, in dieser Zeit Flagge zu zeigen, »um dem Imageschaden entgegenzuwirken«.
Der Aufruf reflektiert, dass bürgerliche Medien öfter mal kritisch über Steiners Lehre und sein Wirken berichten – anders als 2011 zu dessen 150. Geburtstag. Damals wurde Steiner als verkannter Denker und Sozialreformer der Moderne gefeiert. Zum 100. Geburtstag der Waldorfschule 2019 brachten die »Tagesthemen« eine wohlwollende Hommage und Caren Miosga tanzte eurythmisch. Das Image hat seitdem gelitten, weil sich einige Anthroposoph*innen während der Corona-Pandemie in der Querdenker-Szene profilierten.
So klärte der frühere Waldorflehrer und Dozent für Waldorfpädagogik Christoph Hueck Corona-Opfer darüber auf, dass Leiden »als ein tiefer karmischer Entwicklungsimpuls verstanden werden« könne. Der gelernte Biologe forderte ein spirituelles Verständnis der Pandemie: »Der Karmagedanke bedeutet, dass Gesundheit zum überwiegenden Teil nicht mit äußeren Vorsichtsmaßnahmen zu schützen ist, und dass man sein Leben nicht mit solchen Maßnahmen verlängern kann.« Er rügte »das unbedingte Festhalten am Leben« als »materialistische Haltung von Menschen«, die nicht spüren könnten, »dass sie seelisch-geistig unsterblich sind«. Hingegen würde der »Gedanke an ein Fortleben und eine Weiterentwicklung nach dem Tod« dazu führen, dass sich die Angst vor dem Tod in »Lebenssicherheit« und »Lebenstüchtigkeit« verwandelt. Wer das glaube, könne begreifen: »Wenn ich sterbe, werde ich viel bewusster und freier werden.«
Auf bürgerlichem Boden
Mit Blick auf solche Wahnvorstellungen ist negative Berichterstattung wohlverdient. Allerdings ist die selektive Empörung auch bezeichnend für die Ignoranz der bürgerlichen Öffentlichkeit. Denn Anthroposophie war stets Schwurbelei plus Hang zur Verschwörungstheorie – und gehörte damit schon lange zum bürgerlichen Traditionsbestand. Sie wurde lange Zeit wohlwollend betrachtet, weil sie im deutschen Bürgertum solide verankert ist, anders als Sekten US-amerikanischer Herkunft wie Scientology. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Die Grünen) etwa hielt 2019 in der Stuttgarter »Mutterschule« eine Laudatio zum 100-jährigen Bestehen der Waldorfschule, in der er die »erstaunlichste und erfolgreichste Bildungsidee« des Jahrhunderts pries. 2021 feierte das Land Nordrhein-Westfalen den 100. Geburtstag des anthroposophischen Künstlers Joseph Beuys, Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) übernahm die Schirmherrschaft. Beuys hatte NS-Vergangenheit und mit der Neuen Rechten kooperiert. Zum 100. Todestag Steiners gibt es in der Anthroposophie-Hochburg Stuttgart gleich zwei Sonderausstellungen. Das Kunstmuseum würdigt in »Kosmos Rudolf Steiner« einen »der einflussreichsten und zugleich umstrittensten Reformer des 20. Jahrhunderts«, das Stadtpalais will in »Stuttgart, Waldorf, Globuli« auch die »zahlreichen Kontroversen rund um die esoterische Bewegung« aufzeigen.
Längst sind anthroposophische Gesellschaften wie der Landwirtschaftsverband Demeter und die Kosmetikfirma Weleda raus aus der Nische des Naturkostladens. Mit der Gründung der Universität Witten-Herdecke waren Anthroposoph*innen Pioniere der Privatisierung im Hochschulbereich. Die Waldorfschulen boomen wie alle Privatschulen, inzwischen gibt es mehr als 250 Einrichtungen hierzulande, in denen über 90 000 Kinder und Jugendliche gemäß Steiners Ideen behandelt werden. Darin drückt sich der Rückzug der Wohlhabenden vom öffentlichen Schulsystem aus, das wiederum stetig verfällt, wie etwa der eklatante Mangel an Lehrer*innen zeigt. Aber die Waldorfschule, die sich gerne als Gesamtschule präsentiert, ist keineswegs inklusiv und integrativ, sondern eine weitgehend »ausländerfreie« Zone. Der Anteil von Kindern mit migrantischem Hintergrund liege »gerade mal bei vier Prozent«, wie Susanne Piwecki vom Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen in der Verbandszeitschrift »Erziehungskunst« im März 2024 durchaus selbstkritisch einräumte.
Schon vor Corona führte die – gelinde gesagt – Impfskepsis in Waldorf-Kreisen zu Masernausbrüchen, der gesamte Protest gegen die Masernimpfpflicht speiste sich aus diesem Milieu. Im Januar dieses Jahres starb ein zehnjähriger Junge aus Brandenburg an Diphtherie, nach monatelanger Behandlung im Krankenhaus. Medienberichten zufolge hatte das Kind eine Waldorfschule besucht und war nicht gegen die gefährliche Krankheit geimpft.
Steiner äußerte sich allerdings widersprüchlich zu Impfungen und in einer Stellungnahme der Medizinischen Sektion am Goetheanum (dem internationalen Hauptquartier der Bewegung in Dornach in der Schweiz) und der Internationalen Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften vom April 2019 heißt es ausdrücklich: »Anthroposophische Medizin vertritt keine Anti-Impf-Haltung und unterstützt keine Anti-Impf-Bewegung.« Auf die Corona-Pandemie reagierten die Bewohner*innen dieser Parallelwelt daher keineswegs einheitlich, es gab einigen Streit. Aber selbst jene, die die Gefährlichkeit des Virus betonten und Gegenmaßnahmen unterstützten, beriefen sich auf Karma und Dämonen. Das ist möglich, weil Anthroposophie eine Weltanschauung ist, die dem Anspruch nach in jeder Demeter-Karotte und jeder Weleda-Creme steckt.
Wissenschaft des »Menschheitsführers«
Der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner kam 1861 als Sohn eines Bahnstationsvorstehers in Österreich-Ungarn zur Welt und verdiente als prekär beschäftigter Akademiker seinen Unterhalt, bevor er Anfang des 20. Jahrhunderts zum Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft avancierte, quasi der Mutter der modernen Esoterik.
Bald überwarf sich Steiner allerdings mit der Führung der Gesellschaft, die in Indien residierte, weil er eine abendländisch-christliche anstelle einer östlichen Esoterik favorisierte. Vor dem Ersten Weltkrieg spalteten er und seine Anhänger*innen sich ab und gründeten die Anthroposophische Gesellschaft. Anfangs widmete sich die Gruppe den eigenen Befindlichkeiten, aber nach den turbulenten Zeiten von Krieg und Nachkrieg wollte Steiner mit seinen Getreuen zunehmend die Gesellschaft politisch formen. Daraus entstand in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eine umfangreiche Subkultur aus Vereinen und Gesellschaften, Unternehmen wie Weleda und Hauschka, der Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken (GLS-Bank) sowie die Kindergärten und Schulen. Dabei griff Steiner Reformvorstellungen auf und kombinierte sie mit seiner Esoterik. Mit dieser Masche begründete er 1924 die biologisch-dynamische Landwirtschaft, indem er Warnungen vor den zerstörerischen Tendenzen industrieller Landwirtschaft mit Obskurantismus paarte: Er schwadronierte über »Offenbarungen des Stickstoff« oder »geistigen Mist« aus Kuhhörnern.
Steiner präsentierte seine Ansichten als »geisteswissenschaftliche Erkenntnisse«. Seine Adepten nehmen in Anspruch, das Glaubensgebilde sei Wissenschaft, während sie die esoterische Konkurrenz gerne der Scharlatanerie bezichtigen. Dabei basiert das anthroposophische Universum einzig und allein darauf, dass die Getreuen an die hellseherischen Qualitäten Steiners glauben. Sie feierten ihn als »Menschheitsführer«, als Reinkarnation von Aristoteles und Thomas von Aquin. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn heutige Fans nicht mehr ehrfürchtig vom Doktor, sondern schlicht von Rudi sprechen.
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Steiner bildete seine Lehre aus Versatzstücken von Hinduismus, Evolutionslehre, Rassismus und Antisemitismus, angereichert um christliche Elemente wie der Idee von Christus als inkarniertem Sonnengeist. Das Ergebnis ist eine gnostisch-pantheistische Religion mit Schwarz-Weiß-Malerei: Das Göttliche steckt demnach in allem, es ist gefangen in der Materie und muss sich daraus befreien. Das dauert einige hunderttausend Jahre, in denen unser Geist, ein göttlicher Funke, auf verschiedenen Planeten als Mineral, Pflanze, Tier und Mensch reinkarnieren muss, bis er bei guter spiritueller Führung zum körperlosen Geistwesen aufsteigt. Auf diesem Pfad lauerten Gefahren und Prüfungen, verkörpert von den Dämonen Ahriman und Luzifer, die hinter den Erscheinungen der Moderne steckten. Ahriman bediene sich des Buchdrucks, der Zeitung, der Elektrizität, des Computers und der Software, um uns zu manipulieren; unsere Abhängigkeit lasse er uns spüren, wenn wir am Telefon in einer Warteschleife hängen, fabulierte ein Autor im November 2024 in der Zeitschrift »Die Drei« der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft.
Karmischer Rassismus
Zentral ist die Lehre von Karma und Reinkarnation, ein universelles Gesetz, wonach das Leben jedes Menschen von seinen Handlungen in früheren Leben geprägt ist, während die Taten in diesem Leben künftige Wiederverkörperungen determinieren. Steiner behauptete, das Aussehen und Befinden eines Menschen, die seelischen Anlagen, Geschlecht und soziale Position wie der Lebensweg vom Karma bestimmt sind. Er sprach von einem »Karmakonto«: Wer etwa eine Lungenentzündung bekommt, habe im früheren Leben ausschweifend gelebt und müsse jetzt gegen Luzifer kämpfen. Menschen mit »schwachem Ich-Gefühl« suchten sich bei der nächsten Wiedergeburt Gegenden aus, in denen Cholera grassiert, um ihr Selbstgefühl an »derbsten Widerständen« zu kräftigen, behauptete Steiner. Da ist der Gedanke naheliegend, mit einer Impfung die eigene Seelenwanderung zu verpfuschen.
Die Lehre gilt auch als »Grundlage allen wahrhaften Erziehens«, wie Stefan Leber 1997 erklärte, damals führender Funktionär der Waldorfbewegung. Waldorfpädagogik geht aus einem »durch geisteswissenschaftliche Forschung gewonnenen Menschenbild hervor, für das Reinkarnation und Karma geistige Erfahrungstatsachen sind, nicht aber Glaubensartikel oder Resultate visionsartiger Schauungen«, schrieb Valentin Wember 2004 in der »Erziehungskunst«. Darum sei »die gesamte Waldorfpädagogik in ihrem Kern auf einem Menschenbild« aufgebaut, »für das Karma und Reinkarnation zentrale Tatsachen sind«.
Auf Erden reinkarniere der göttliche Funke als Mensch in sieben Wurzelrassen mit je sieben Unterrassen. Diese Lehre kupferte Steiner von Helena Petrowna Blavatsky, der Begründerin der Theosophie, ab und schmückte sie weiter aus. Detailliert schilderte er vermeintliche Rassen und ihre Eigenschaften, die »Indianer« als überaltert und spirituell nicht entwicklungsfähig – der Genozid ist folglich Karma –, die Chinesen, Koreaner und Japaner als dekadent, Slawen als roh, ihnen müssten die Deutschen erst Kultur beibringen. Die Grundregel besagt, dass manche »Rassen« eine Aufgabe haben. Ist ihre Mission erfüllt, haben sie keinen Wert mehr für die spirituelle Evolution. So schafft laut Steiner die weiße »Rasse« am Geist, während Schwarze durch die Sonnenstrahlen innen gekocht würden und dem Triebleben frönten. Seine Nachfolger*innen beschrieben Afrikaner*innen als ich-los und kindisch wie Pflanzen.
Ausgerechnet den Deutschen wies Steiner die allerwichtigste Mission zu. Sie seien von höheren Mächten ausersehen, die Respiritualisierung der Menschheit voranzutreiben, indem sie ein Ich-Bewusstsein entwickeln. Vor diesem Hintergrund deutete Steiner den Ersten Weltkrieg als Verschwörung gegen Deutschlands Mission. Renate Riemeck, vormalige Nationalsozialistin und Galionsfigur der Ostermarschbewegung, recycelte diese Legende 1965 in Buchform.
Die Rolle der Juden
Die Juden wiederum haben Steiners Lehre nach zwei Aufgaben: Sie hätten den Monotheismus erfunden, als Vorstufe zu Christentum und Anthroposophie, und einen Körper geschaffen für die Reinkarnation von Christus. Das bedeutet, dass ihre Mission mit Beginn der christlichen Zeitrechnung erfüllt ist und sie fortan überflüssig sind. Die Existenz des Judentums sei ein »Fehler der Weltgeschichte« mit negativen Folgen für die europäische Kultur, schrieb Steiner schon als deutschnationaler Student in Wien.
Deutlich wird der Mix aus christlichem Antisemitismus, dem Vorwurf der Gottesleugnung, Rassismus und spiritueller Mission in einem Vortrag von 1908, in dem Steiner ausführte: »Das ist die tiefere Idee des Ahasver (des »ewigen Juden«, Anmerk. des Autors), der immer in derselben Gestalt wiederkehren muss, weil er die Hand des größten Führers, nämlich Christus, von sich gewiesen hat.« Dass es sich dabei um ein Gesetz handelt, das für alle gilt, wird in den folgenden Sätzen klar: »So ist die Möglichkeit für den Menschen vorhanden, mit dem Wesen einer Inkarnation zu verwachsen, den Menschheitsführer von sich zu stoßen oder aber die Wandlung durchzumachen zu höheren Rassen, zu immer höherer Vervollkommnung. Rassen würden gar nicht dekadent werden, gar nicht untergehen, wenn es nicht Seelen gäbe, die nicht weiterrücken können und nicht weiterrücken wollen zu einer höheren Rassenform. Schauen Sie hin auf Rassen, die sich erhalten haben aus früherer Zeit: Sie sind bloß deshalb da, weil da Seelen nicht höhersteigen konnten.«
Das anthroposophische Universum basiert einzig und allein darauf, dass die Getreuen an die hellseherischen Qualitäten Steiners glauben.
Marie von Sivers, Steiners zweite Ehefrau, glaubte an eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung. Der Gründer der anthroposophischen »Christengemeinschaft«, »Erzoberlenker« Friedrich Rittelmeyer, hetzte gegen Internationalismus und Pazifismus, beides seien abstrakte und blutlose Produkte des »jüdischen Geistes«. Er verlangte wie die nationalsozialistischen Deutschen Christen eine »Reinigung« des Christentums vom »semitischen Wesenscharakter«. Der heroische Christus sei ein Kämpfer gewesen ohne jüdisch-katholische »Weichheit«. Karl König, Begründer der Camphill-Bewegung, behauptete 1965, der Holocaust sei ein karmischer Ausgleich für den Gottesmord, den die Juden begangen hätten.
In vielen Waldorfschulen führen Kinder alljährlich die sogenannten Weihnachtsspiele auf, die Steiner bearbeitet hatte. Im »Dreikönigsspiel« treten drei Juden auf, Kaifas, Pilatus und Jonas, hohe Priester, die König Herodes die Geburt des Kindes in Bethlehem deuten, woraufhin dieser den biblischen Knabenmord anordnet. Den Regieanweisungen Steiners zufolge sollen die Juden stereotyp, servil und schmeichlerisch dargestellt werden.
Erlösungspaternalismus
In einer fernen Zukunft würden die »Rassen« verschwinden, wenn alle Wesen spirituell so fortgeschritten seien, dass sie aus dem Jenseits ihre Körper selbst formen, prognostizierte Steiner. Diese Stelle zitieren Anthroposoph*innen gerne, um den Vorwurf des Rassismus abzuwehren. Nicht völlig zu Unrecht, denn so obskur die Lehre ist, unterscheidet sich anthroposophischer Rassismus dadurch fundamental vom nazistischen Rassismus. Den Nationalsozialisten ging es um die Versklavung sogenannter minderwertiger Rassen und die Vernichtung der Juden. Anthroposoph*innen hingegen wollen mit ihrer Lehre letztlich alle Menschen von der Bindung an die Materie erlösen.
Dieser Paternalismus wird deutlich bei internationalen Projekten. In einem internen Waldorf-Rundbrief aus dem Jahr 1997 über die Teeplantage Sekem, die Kinderarbeit mit Waldorfpädagogik verbindet und hierzulande von Medien als Musterprojekt gewürdigt wurde, heißt es, die Ägypter lebten ganz in der »Empfindungsseelenzeit«, wie fast alle Völker und Kulturen im Sonnengürtel der Erde. Sie ließen sich treiben, lebten nicht zielgerichtet, deswegen sei der Autoverkehr in Kairo chaotisch und es sei überall unglaublich dreckig. Im Unterschied dazu sei es in Sekem ordentlich und sauber, es herrsche eine arbeitsame sinnerfüllte Atmosphäre. Der Verfasser führte dies darauf zurück, dass die Führungsstruktur einer der Empfindungsseele angemessenen »pharaonischen Hierarchie« gleiche und die »meist europäischen Mitarbeiter die Verhältnisse aus der Bewusstseinsseele heraus zielvoll führen«.
Selten kommt so unverblümt zum Ausdruck, was sich hinter ätherischem Gutmenschentum verbirgt: Anthroposophischer Rassismus ist bevormundend und anmaßend, nicht eliminatorisch wie der Nationalsozialismus, sondern paternalistisch. Er konserviert die kolonialistische Ideologie seiner Entstehungszeit um 1900, als Europäer*innen bis weit hinein in die Sozialdemokratie von der »Bürde des weißen Mannes« schwätzten, um die Aufteilung der Welt, das Plündern, Foltern und Morden zu rechtfertigen, zum Wohle der Wilden und Barbaren, denen man die Segnungen der Kultur bringe.
Die »Bewusstseinsseele« sei ein höheres geistiges Wesensglied, über das Europäer*innen verfügten: Auf diesen anthroposophischen Unsinn spielte ein Autor an, der die Katastrophe von Fukushima 2011 in der Zeitschrift »Goetheanum« deutete. Als Ursache von Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe machte er »dreifache ahrimanische Kräfte« aus, Dämonen, denen die Menschen ausgesetzt seien. Die Katastrophe sei Folge des »Gesamt-Menschheits-Karma«. Die Opfer büßen demnach, weil das Karmakonto überzogen ist. »Japan ist das einzige Land, in dem Atomwaffen abgeworfen werden. Dasselbe Volk ist jetzt ›ziviler‹ radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Das ist das Schicksal Japans. Die materialistische Einstellung des Landes verursacht diese Situation. Was wir erleben, ist ein apokalyptisches Ereignis, das zugleich ein Zeichen zur Verstärkung der Bewusstseinsseele bedeutet«, heißt es in dem Artikel weiter.
Armutszeugnis für den Hellseher
Heute wird in anthroposophischen Kreisen nicht mehr von Rassen, sondern von Kulturepochen gesprochen, weil der Rassenbegriff historisch kontaminiert ist. Der Grundgedanke einer evolutionären Entwicklung des Geistes, die sich in unterschiedlichen Körpern und gesellschaftlichen Zuständen materialisiert, ist geblieben. So heißt es 2007 in einer Broschüre von »Info 3«, einer Zeitschrift, die in der Szene als liberal und offen gilt: »Grundlage ihres Weltverständnisses ist die Vorstellung einer immerwährenden Höherentwicklung.« Darum sei Anthroposophie eine »evolutionäre Spiritualität«, was bedeute, »dass es ein Vorne, eine Mitte und ein Hinten gibt, ein Oben und Unten, fortschrittliche und rückständige Zustände«. Alle diese Zustände hätten ihren eigenen Wert: »Sie sind jeweils Bedingung für den nächsten Zustand.« Entwicklung bedeute nicht nur, »dass die Menschheit vom Einfachen und Grundlegenden zum Speziellen und Bedeutsamen fortschreitet. Es bedeutet auch, dass viele der Entwicklungsstadien gleichzeitig existieren können. Nicht die ganze Menschheit und alle Menschen entwickeln sich im Gleichschritt.«
Allenfalls räumen Anthroposoph*innen vermeintliche Einzelfälle und Missverständnisse ein, von denen sie sich distanzieren. In der »Stuttgarter Erklärung« der Waldorfschulen »gegen Rassismus und Diskriminierung« von 2020 heißt es, das Gesamtwerk Steiners enthalte »vereinzelte Formulierungen«, die »von einer rassistisch diskriminierenden Haltung der damaligen Zeit mitgeprägt sind«. Allerdings kämpften bereits zu seinen Lebzeiten Menschen wie der Anthropologe August Boas und Rosa Luxemburg gegen den Rassenwahn. Schon 1885 publizierte der haitianische Schriftsteller Anténor Firmin einen Essay über die Gleichheit der Rassen. Heutiger Erkenntnisstand ist, dass Menschen sich nicht in Rassen sortieren lassen, das Konzept ist eine Erfindung europäischer Dichter und Denker. Steiners Rassismus als zeitbedingt zu entschuldigen, stellt einem Hellseher ein Armutszeugnis aus.
Peter Bierl ist freier Journalist und Autor des Buches »Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik« (Konkret-Literatur-Verlag 2005). Zuletzt ist von ihm die zweite überarbeitete Auflage von »Einmaleins der Kapitalismuskritik« (Unrast-Verlag) erschienen.
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