Lothar Trolle: Transportarbeiter mit unklarem Auftrag

Der Dramatiker Lothar Trolle ist tot

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
»Lothar Trolle ist eine Figur aus einem Text von Lothar Trolle«, wusste Heiner Müller.
»Lothar Trolle ist eine Figur aus einem Text von Lothar Trolle«, wusste Heiner Müller.

Wenn ich ein Wort für Lothar Trolle suche, finde ich dieses: vertrackt. Selbst die einfachsten Dinge führten für ihn ein höchst kompliziertes Eigenleben. Dagegen war das Komplizierte dann wieder ganz einfach. So war der Mensch, so sind seine Texte. Nichts für Im-Vorbeigehen, sondern etwas, wofür man Zeit braucht. Eine Welt, in die sich der Autor eingesponnen hatte wie eine eigensinnige Spinne in ihr Netz, die nicht mehr jagen, sondern endlich in Ruhe gelassen werden will – freischwebend Sonne und Wind ausgesetzt.

Trolle war ein Surrealist, wie ihn die Franzosen mögen und er den Deutschen suspekt ist. Der Aberwitz des Lebens spiegelt sich in seinen Texten. Es ist noch nicht lange her, da galt er als ewig jugendlicher Szenedichter. Warum? Weil er, wenn jemand »Faust« sagte, sofort Alfred Jarrys »Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll« parat hatte. Faust ist hier ein bekennender Pataphysiker. Das ist jemand, der dem Sinn des Unsinns nachlauscht, worin es einst Max Ernst zu einer hohen Kunstfertigkeit brachte. Natürlich gab es für Lothar Trolle, der 1944 in Sangerhausen geboren wurde – wo er mit Einar Schleef zur Schule ging – nach der Wende keinen Ort in der Welt der neuen optimierten Nützlichkeiten, in die er noch weniger passte als in die von Ideologie beherrschte DDR.

Wo aber konnte man einen wie ihn brauchen, der alles im Leben so nebenbei aufsammelte, sein früheres Leben als Transportarbeiter etwa? Nirgends, und das, glaube ich, freute ihn. Auch das Schreiben war für ihn eine Art Transportarbeit. Aber ob das Transportierte je ankommt? Irgendwo schon, wenn auch nicht immer da, wo es eigentlich hin soll. Worte gehen nun mal ihre eigenen Wege und der ideale Schreiber folgt ihnen – wie ein eifriger, wenn auch eigensinniger Sekretär – überall hin. Und sei es auf Abwege, die er dann so lustvoll ging, wie eben jemand geht, der nur dem eigenen Auftrag folgt, der ihm jedoch völlig unklar ist.

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1966 bis 1970 studierte er an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie. Wolfgang Heise wurde ihm dort zum strengen Gegenpol, ein Ordnungsdenker, dem man nicht mit Alfred Jarry zu kommen brauchte. Aber es war eine Lehrstunde für den originellen Marx-Deuter, der Trolle auch war.

Wenige gab es, die ihm wirklich nah waren, denn diese mussten Sinn für das Ferne in aller Nähe besitzen. Vor allem war es Horst Hussel, ebenfalls einer der seltenen deutschen Surrealisten, dem die DDR deshalb eine feindliche Heimat war, weil sie ihm eine unerschöpfliche Fundgrube für jenen Aberwitz bot, aus dem sich seine Bilder speisten. Und natürlich Frank Castorf, mit dem ihn der Mutwille verband, immer das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihm erwartete. Die Forderung der Stunde? Die interessierte alle drei nicht, sie lebten im Augenblick (der dauert laut Hirnphysiologen genau drei Sekunden) und in Jahrhunderten.

Es war dann auch Frank Castorf, der Trolles Stück »Hermes in der Stadt« 1992 am Deutschen Theater herausbrachte. Hermes ist ein Götterbote, aber ein unmöglicher, der nichts dorthin bringt, wo es eigentlich hin soll. So erst entsteht Poesie. Trolle reiht hier lauter Berichte über Verbrechen aneinander, Ausdruck des Niedrigsten im Menschen und kontrastiert sie mit dem vermeintlich Höchsten, dem Bildungsgut, das der allzu leichten Lebensfracht erst ihren Ballast gibt: Wer vom Hexameter rede, müsse auch vom Pentameter sprechen. Es scheint, daraus könnten Verbrechen erwachsen, etwa die böse Lust, jemandem den Hals zuzudrücken.

Für Trolle waren solche Kausalitäten normal. Seine Stücke waren natürlich reine Provokation, aber mit hingebungsvollem Hintersinn. »Ulbricht und ich« oder »Heiner Müller im VP-Krankenhaus« (beide 1972) verstehen heute nur noch Eingeweihte.

Trolle beherrschte jene Kunst, die einsam macht: sich kunstvoll jedem voreiligen Verstehen zu entziehen. So bringt er in seinem »Märkischen Fragment 1945« Karl Marx und ein Rasiermesser auf unerwartete Weise zusammen. Denn die sowjetische Siegermacht verbot mit dem Befehl 525 auch den Besitz von Rasiermessern, in denen sie die Möglichkeit einer Waffe erkannte. Solche Möglichkeit einer Waffe könnte man auch in der Kunst sehen. Also verknüpft Trolle beides und fordert: »Ich will mein Rasierzeug wiederhaben!« Denn sonst würden nach drei Wochen auch die großen und kleinen Nazis im Lande wie Marx aussehen!

Trolle, der Springteufel der negativen Dialektik, ist ein Einzelgänger, ein Alleingeher in höchster absurder Würde geblieben. 1994 schrieb Heiner Müller über ihn die immer noch gültigen Worte: »Lothar Trolle ist eine Figur aus einem Text von Lothar Trolle. Sein bürgerlicher Name lautet Kaspar Hauser. Von seinem Namensvetter hat er den fremden Blick auf die Wiederkehr des Gleichen in der Tretmühle des Alltags und die Ahnung von einem endgültigen Schrecken, der seine Clownerien schwarz grundiert.«

Am letzten Märztag ist Lothar Trolle, dieser einzigartige Autor, der seine Leser immer nur als Figuren aus dem bösen Märchen ansah, im Alter von 81 Jahren in Berlin gestorben.

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