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Tobias Rothmund: »Menschen folgen häufig ihren Gefühlen«

Der Rechtsextremismusforscher Tobias Rothmund erklärt, wie sich Menschen radikalisieren und warum die AfD so vielen attraktiv erscheint

Publikum auf einer AfD-Wahlkampfveranstaltung. Viele Anhänger der Partei sind frustriert und wütend; sie haben aber häufig auch Hoffnung und einen Wunsch nach Anerkennung und Orientierung.
Publikum auf einer AfD-Wahlkampfveranstaltung. Viele Anhänger der Partei sind frustriert und wütend; sie haben aber häufig auch Hoffnung und einen Wunsch nach Anerkennung und Orientierung.

Die Bundestagswahl unterstreicht, wie sehr Deutschland in den vergangenen Jahren politisch nach rechts gerückt ist. Können Sie uns diesen Trend erklären?

Ich würde mal mit der Feststellung beginnen, dass wir diesen Trend nicht nur in Deutschland haben, sondern auch in anderen Ländern. Es ist also kein spezifisch deutsches Phänomen, dass Politik und Gesellschaft in den vergangenen Jahren nach rechts gerückt sind. Und es ist auch kein spezifisch ostdeutsches, immerhin sehen wir diesen Trend auch in Teilen der westdeutschen Bundesländer. Dass die AfD im Osten höhere Stimmanteile hat als im Westen, liegt daran, dass es in den ostdeutschen Ländern verschiedene, strukturelle Aspekte gibt, die diesen Trend besonders befördern.

Welche meinen Sie?

Wir sehen in den ostdeutschen Bundesländern zum Beispiel viele Probleme durch demografische Veränderungen, Stichwort Überalterung der Bevölkerung. Hinzu kommen bestimmte Schwächen der ostdeutschen Wirtschaft. Die Unternehmen im Osten sind oft kleinteiliger, es gibt weniger Tarifverträge, die Einkommen sind niedriger. Das sind Faktoren, die für die Menschen vor Ort mit Belastungen und Ängsten verbunden sind. Gleichzeitig spüren viele Menschen beim Blick in die Vergangenheit eine Art Verbitterung. Sie haben den Eindruck, benachteiligt oder unverhältnismäßig belastet worden zu sein und nehmen sich als Verlierer von Veränderungsprozessen wahr. Und in dieser Gemengelage kommt nun eine Partei, die vorgibt, die Interessen der Ostdeutschen an die erste Stelle zu setzen. Ostdeutschland first, sozusagen.

Die extreme Rechte verspricht dem Einzelnen Orientierung und einfache Lösungen.
Die extreme Rechte verspricht dem Einzelnen Orientierung und einfache Lösungen.

Wenn das so ist, muss man das starke Abschneiden der AfD doch als Versagen des deutschen Bildungssystems verstehen, oder? Wenn einfache Antworten bei Menschen verfangen, haben Schulen, Berufsschulen und Universitäten viele Menschen offensichtlich nicht auf die komplexe Wirklichkeit vorbereitet.

Ich würde diesen Trend nicht als Versagen des Bildungssystems verstehen. Menschen denken und handeln nicht nüchtern und rational wie Computer. Schauen Sie: Das, was die AfD verspricht, würde sehr vielen Menschen, die sie wählen, im materiellen Sinne gar nicht zugutekommen. Das heißt, für diese Menschen gibt es eigentlich keine sachlogischen Argumente, diese Partei zu wählen. Stattdessen haben wir es hier mit einer sehr emotional getriebenen Logik zu tun, bei der es um Frustration und Wut, aber auch Hoffnung und einen Wunsch nach Anerkennung und Orientierung geht. Menschen folgen im politischen Bereich häufig ihren Gefühlen, das ist ein ganz normales Phänomen. Das können wir nicht dem Bildungssystem anlasten.

Interview

Der Kommunikations- und Medienpsychologe Tobias Rothmund forscht über Fragen der politischen Psychologie – also zum Zusammenhang von Persönlichkeit und politischen Präferenzen sowie den psychologischen Grundlagen von Ideologien. Er ist Direktor des Zentrums für Rechtsextremismusforschung der Universität Jena.

Aber sollten wir nach einer inzwischen Jahre andauernden Auseinandersetzung mit der AfD nicht endlich mal gelernt haben, mehr auf die Rationalität und weniger auf Gefühle zu hören?

Interessante Frage, die aber überschätzt, wie sehr Gefühle sich rational steuern lassen. Gerade die Gefühle, um die es hier geht: Angst, Frust, Ärger, Hoffnung. Insbesondere bei Menschen, die sich in ihrem Alltag nur wenig mit der Komplexität politischer und gesellschaftlicher Probleme beschäftigen, sind solche Emotionen oft handlungsleitend. Aber auch bei politisch interessierten Menschen können starke Gefühle wie eine Art Brille wirken, durch die alle politischen Informationen gefiltert und bewertet werden.

Sie haben jüngst in einem Sammelband gemeinsam mit anderen Autoren beschrieben, wie Menschen sich nach rechts radikalisieren. Gibt es einen typischen Weg dafür?

Es gibt Grundelemente in einem solchen Radikalisierungsprozess, die immer wieder vorkommen. Wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, was wir meinen, wenn wir von Radikalisierung reden. Es geht dabei nicht nur um extremistische Gewalt. Die Ausübung von politischen Gewaltakten kann der Endpunkt einer Entwicklung sein. Muss aber nicht. Wir meinen mit Radikalisierung zunächst einmal, dass Menschen die Welt immer stärker durch eine bestimmte, ideologisch geprägte Brille betrachten und diese Sicht irgendwann ihr gesamtes politisches Denken und Handeln bestimmt – so sehr, bis sie nicht mehr in der Lage sind, Dinge außerhalb dieses immer schmaler werdenden Blickwinkels zu betrachten. Dabei verengt sich dieser Blickwinkel immer mehr auf einzelne Themen.

Wie die Migration.

Zum Beispiel. Diese Radikalisierung ist ein oft langer und komplexer Prozess. Die Basis dafür ist häufig eine Frustration – eine Art motivationaler Nährboden, den wir Deprivationserleben nennen. Das ist das Gefühl, einer Gruppe anzugehören, die nicht bekommt, was sie vermeintlich verdient hat. Ein Phänomen, das wir aktuell auch bei Männern häufig beobachten.

Wie das?

Der Status von Männern ist heute nicht mehr so herausgehoben wie noch vor einigen Jahrzehnten. Daraus ergibt sich für viele Männer eine Form der Frustration, ein Gefühl der Geringschätzung. Mit anderen Worten: ein Deprivationserleben. Das ist häufig die Grundlage für eine Radikalisierung nach rechts. Denn der Rechtsextremismus ist eine politische Narration, die dem Einzelnen Anerkennung und Orientierung verspricht. Anerkennung im Sinne einer Selbsterhöhung – einerseits im Vergleich zu anderen Gruppen, die in dieser Weltsicht abgewertet werden, andererseits aber auch, indem sich der Einzelne mit einer bestimmten, angeblich überlegenen Gruppe identifizieren kann. Parallel dazu liefern Rechtsextremismus und Rechtspopulismus einfache Erklärungen dafür, warum die Lage angeblich so ist, wie sie ist. Häufig sind das Verschwörungstheorien, diese liefern einen einfachen Orientierungsrahmen – weil sie nach einem klaren Freund-Feind-Schema funktionieren.

Trotzdem muss man sich doch fragen, warum nach mehr als einem Jahrzehnt Auseinandersetzung mit der AfD solche Erklärungsansätze in weiten Teilen der Bevölkerung nahezu unbekannt sind.

Na ja, einerseits haben Rechtsextremisten und Rechtspopulisten gerade international ein großes Momentum. Rund um den Globus sind solche Ideologien und Weltsichten im Aufwind. Sehen Sie sich Trump und die USA an. Andererseits haben die etablierten Parteien in den vergangenen Jahren viele Fehler gemacht. Es reicht einfach nicht, nur zu sagen: Das, was die AfD tut oder will, ist der falsche Weg. Die etablierten Parteien müssen einen alternativen Weg in die Zukunft aufzeigen. Daran ist die Politik zuletzt gescheitert. Sie hat sich zu sehr an identitätspolitischen Diskussionen abgearbeitet, sie war zu sehr auf die AfD fokussiert und hat zu wenige Probleme der Menschen gelöst.

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Was meinen Sie mit »identitätspolitischen Diskussionen«?

Diese ganzen Diskussionen über links, rechts, Mitte. Das interessiert die Leute doch am Ende gar nicht. Was die Leute interessiert, ist, ob Probleme gelöst werden.

Also stimmen Sie einer Analyse zu, die am Abend der Bundestagswahl auf vielen Wahlpartys zu hören war: Das starke Abschneiden der AfD hat demnach maßgeblich damit zu tun, dass die etablierten Parteien so viel über die AfD und ihr zentrales Thema Migration geredet haben?

Ja, absolut. Es scheint auch der CDU nicht geholfen zu haben, dass sie Migration mal wieder zu einem zentralen Thema gemacht hat. Notwendig ist ein Gegenmodell, eine politische Vision. Es nützt nichts, darüber zu klagen, dass die CDU thematisch immer weiter an die AfD heranrückt, um Wähler zurückzugewinnen; und andere Parteien grenzen sich dann maximal von diesem Versuch ab – immer steht dabei die AfD im Fokus der Aufmerksamkeit. Das kann nicht die Lösung sein. Stattdessen braucht es Ideen, wie Migration funktionieren kann. Nicht dazu, wie man Migration abschaffen kann, das ist die Politik der AfD. Und so sieht es mit anderen Themen auch aus: Wie kann Europa gelingen? Wie kann man Bürokratie abbauen? Das sind Themen, die die Leute bewegen.

Gibt es Ansätze, mit denen sich Menschen wieder für die Demokratie gewinnen lassen, die sich zuletzt dem Rechtsextremismus zugewandt haben?

Ob das gelingen kann, dafür ist die Frage zentral, ob es einen Politikwechsel gibt, von dem ich eben gesprochen habe. Das bedeutet aber auch, dass wir raus aus den ideologischen Gräben müssen. Das Thema Migration wird nicht erst seit dem Auftauchen der AfD besprochen. Aber SPD und CDU konnten sich da schon vor der Gründung der AfD nicht auf einen gemeinsamen, konstruktiven Weg einigen. Bei vielen Themen müssen deshalb alle etablierten Parteien über ihren ideologischen Schatten springen. Das ist natürlich nicht so einfach, weil sie alle fürchten, sie könnten ihre Wählergruppen verprellen. Aber bei aller Bedeutung von strategischer und politischer Kommunikation: Ehe man über etwas reden kann, braucht man eine Vision, wie Deutschland in zehn, in zwanzig, in dreißig, in fünfzig Jahren aussehen soll. Bei allen Diskussionen, die wir führen, ist das eine Leerstelle. Was wir brauchen, ist eine Utopie. Dafür müssen wir mit positiven Gefühlen werben.

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