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DDR: Hallelujah, wir leben noch
Die Auferstehung einer Totgeglaubten oder: Die (un)heimliche Wiederkehr der DDR
Wir schreiben den 5. August 1989: Erstmals nimmt die Regierung Kohl in ARD und ZDF Stellung zur Flucht von tausenden Bundesbürgern in die Botschaften der DDR in Prag, Warschau und Budapest. Den Flüchtlingen wird gedroht. Neun Tage später verkündet der Bundeskanzler: »Den Kapitalismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.« Da der Massenexodus nicht abreißt, erklärt Kohl in einem Gastkommentar für die »FAZ« vergnatzt, man müsse den Flüchtlingen keine Träne nachweinen.
In Bottrop, Castrop-Rauxel und Bielefeld kommt es im September ’89 zu machtvollen Demonstrationen gegen die Kohl-Regierung und für gesellschaftliche Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland. Schon in den Monaten zuvor hatte sich eine innerparteiliche Opposition formiert, um den christdemokratischen Kanzler weg zu putschen. Von Nürnberg bis Norderstedt bilden sich neue Parteien, die nichts mit den alten, etablierten mehr zu tun haben wollen. Prominente Bundesbürger, Künstler, Schauspieler, Rockmusiker, Liedermacher und Wissenschaftler starten einen Aufruf, eine neue, freundlichere, humanere, solidarische Gesellschaft aufzubauen.
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Ostberlin: Die Genossen im Haus am Werderschen Markt, Sitz des ZK der SED, schauen irritiert und gespannt nach Bonn. Die bange Frage: »Was wenn dort alles zusammenbricht? Wo kriegen wir den nächsten Milliardenkredit her?« Sie müssen sich darum nicht mehr lange sorgen, denn gleich der Regierung Kohl sind auch sie einige Tage später durch eine friedliche Revolution des Volkes hinweggefegt. Die Bürger und Bürgerinnen der DDR solidarisieren sich mit ihren Brüdern und Schwestern im Westen. Gemeinsam bringen sie am 9. November ’89 die Mauer in Berlin zu Fall. Am 7. Dezember ’89 tritt in Berlin ein Zentraler Runder Tisch zusammen, paritätisch besetzt von Vertretern oppositioneller Gruppen aus der Bundesrepublik und der DDR, um eine neue Verfassung für ein vereintes Deutschland auszuarbeiten. Es soll eine gleichberechtigte Vereinigung beider Deutschländer auf Augenhöhe sein, die sozialen und kulturellen Errungenschaften der DDR sollen mit Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftskraft der Bundesrepublik zusammengeführt werden.
Stopp. Traum oder Albtraum?
»Kein Anschluss unter dieser Nummer!« Die Unmutsbekundungen zigtausender ostdeutscher Bürger und Bürgerinnen gegen Bonner Ambitionen, das Territorium der DDR per Beitrittsparagraf 23 GG der Bundesrepublik anzuschließen und Ostdeutschland das westdeutsche Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell überzustülpen, werden schnöde ignoriert. Am 20. September 1990 geben Bundestag und Volkskammer dem hastig, innerhalb von drei Monaten unter der Ägide westdeutscher »Experten« zusammengeschusterten, sogenannten Einigungsvertrag ihren Segen. In der Volkskammer stimmt am 30. August 1990 eine wackere Schar von 80 Abgeordneten (PDS, Bündnis 90/Grüne) gegen diesen, im Bundestag sind es 47 (Grüne sowie 13 Parlamentarier der Unionsfraktion).
Dann geht alles Schlag auf Schlag. Ehe sich die Ostdeutschen gewahr werden, was da geschieht, sind sie ihrer Arbeitsplätze beraubt. Von Rostock bis Suhl – die gleiche Masche: Seriös wirkende Herren in Nadelstreifenanzügen kamen über sie, schauten sich in den Volkseigenen Betrieben (VEB) um, hörten sich die Sorgen der Belegschaft an und nickten mitfühlend; der eine oder andere Betriebsführer oder Banker aus dem Westen mag auch ein ostdeutsches Lockenköpfchen tröstend gestreichelt haben. Dann schlägt eine Institution zu, im ostdeutschen Volksmund alsbald Un-Treuhand genannt. Auch was niet- und nagelfest ist, wird verramscht, für ’n Appel und ’n Ei an angebliche Investoren verscherbelt, deren einziger Ehrgeiz darin besteht, Konkurrenz vom Markt zu fegen. Manch VEB ist noch eine Karenzzeit als verlängerte Werkbank westdeutscher Unternehmen vergönnt. Tarifverträge? Fortan in Ostdeutschland ein Fremdwort. Solidarität seitens der westdeutschen Arbeiterklasse und ihrer Gewerkschaften? Fehlanzeige. Das rächt sich ein paar Jahre später, als es auch den Kumpeln und Fließbandarbeitern westlich der Elbe an den Kragen geht. Wegen der Globalisierung, heißt es.
Mit den ostdeutschen Betrieben verschwanden die Betriebskindergärten, Betriebspolikliniken, Betriebsferienlager, die innerbetrieblichen Kultur- und Konfliktkommissionen etc. Geschlossen wurden in den 90ern auch die staatlichen und kommunalen Polikliniken und Kindergärten. Letztere unter anderem, weil ein Kriminologe aus westdeutscher Provinz behauptet hat, diese hätten Untertanen statt mündiger Bürger gezüchtet.
Auch das Bildungswesen der DDR wurde demontiert, die »Einheitsschule« dämonisiert. Und so weiter und so fort. Alles, was von DDR-Bürgern und Bürgerinnen als selbstverständlich angesehen wurde, wurde abgewickelt, ohne Sinn und Verstand. Soziale Errungenschaften, die Visionen und Projekte von bürgerlichen Reformern wie auch aus der Arbeiterbewegung aufgegriffen hatten, beispielsweise von Friedrich Fröbel: »Kinder sind wie Blumen. Man muss sich zu ihnen niederbeugen, wenn man sie erkennen will.« Er hatte 1840 in der thüringischen Stadt Blankenburg den ersten Kindergarten der Welt gegründet, alsbald auch andernorts in Europa kopiert, in England »Kindergarten« geheißen, im Russischen »Detski Sad«.
Knapp ein Jahrzehnt, nachdem in Ostdeutschland hochqualifizierte Kindergärtnerinnen in die Arbeitslosigkeit oder ABM, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, gestoßen worden waren, erkannte man plötzlich deren unschätzbaren Wert für die Gesellschaft; jungen Eltern wurde von der damaligen schwarz-roten GroKo gar ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz versprochen, bundesweit. Nun mussten neue Einrichtungen aus dem Boden gestampft werden (die alten waren dem Verfall preisgegeben worden). Händeringend werden Erzieherinnen gesucht; auch Quereinsteiger sind gewünscht. Junge Mütter und Väter wollen heute nicht mehr auf Kindergärten respektive Kitas verzichten. Die Wiederkehr einer Selbstverständlichkeit in der DDR? Erziehungswissenschaftler und Bildungspolitiker insistieren gar darauf, dass die Kindergärten/Kitas nicht nur Aufbewahrungsstätte sein, sondern wie dereinst im ostdeutschen Staat kindgerecht Wissen vermitteln, Fertigkeiten fördern, auf die Schule vorbereiten sollen.
Und auch die Polikliniken kehrten zurück, nun Ärztehäuser genannt. Sie bündeln ärztliche Kompetenz unter einem Dach und sind kostengünstiger als selbstständige niedergelassene Arztpraxen. In der DDR sorgten sie flächendeckend für eine ambulante Versorgung. Auf dem Lande mangelt es daran mittlerweile arg. Und so mancher denkt sehnsüchtig an »Schwester Agnes« zurück, die auf einer »Schwalbe Überland fuhr, um zu helfen, wo Hilfe nötig war. Jüngste Versuche der Bundesregierung, durch spezielle Vergütungen Landärzte zu rekrutieren, zeitigten kaum Erfolg. Die poliklinischen Ärztehäuser verdanken sich ostdeutschen Fachärzten und Fachärztinnen, die sich nicht in Bockshorn jagen ließen, als alles in und an der DDR diskreditiert worden ist. Die erste Poliklinik hatte übrigens der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland 1796 in Jena gegründet.
Auch die Gesamtschule hat sich in Ostdeutschland behauptet und wird vermehrt ebenso in westdeutschen Bundesländern als Alternative zum traditionellen, dreigliedrigen Schulsystem (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) angesehen. Die Hortbetreuung, Selbstverständlichkeit in der DDR, wollen junge Eltern nicht mehr missen. Wissenschaftler und Berufsausbilder bringen angesichts der Bildungsmisere in Deutschland die zehnklassige, allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS) in Erinnerung, die in geistes- wie naturwissenschaftlichen Fächern unterrichtete und theoretisches Lernen mit beruflicher Praxis verband. Die Idee einer Gesamtschule für alle Kinder, unabhängig vom Geldbeutel, und nicht frühzeitig aussortierend, um allen gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, geht auf Reformpädagogen der Weimarer Republik zurück, darunter der Sozialdemokrat Fritz Karsen (»Die Schule der werdenden Gesellschaft«). 1923 führte er am Kaiser-Friedrich-Gymnasium in Berlin-Neukölln, der späteren legendären Karl-Marx-Schule, erste Arbeiter-Abiturientenkurse ein. Karsen gilt darob auch als Begründer des »Zweiten Bildungsweges«.
Es scheint, als erlebe die DDR eine Wiederauferstehung. Sie lugt und kriecht aus allen Ritzen und Fugen der Gesellschaft hervor. Verdi ist quasi eine Einheitsgewerkschaft, natürlich nicht zu vergleichen mit dem ziemlich staats- und parteihörigen FDGB, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund. Oder das in der Bundesrepublik eingeführte Recyceln. SERO, die Sekundärrohstofferfassung in der DDR, lässt grüßen. Gewiss war diese vor allem der Ressourcenknappheit des »ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden« geschuldet, wurde aber ganz selbstverständlich von Jung und Alt beherzigt. Kinder trällerten: »Hab’n Se nicht noch Altpapier, liebe Oma, lieber Opa?/ Klingelingeling ein Pionier, klingelingeling steht hier, ein roter./ Hab’n Se nicht noch Altpapier, Flaschen, Gläser oder Schrott?/ Klingelingeling, schnell geb’n Se’s mir, sonst holt sich’s die FDJ.«
Auch die Plattenbauweise ist nicht mehr verschrien, wird wieder praktiziert. Es fehlt allerorten an bezahlbarem Wohnraum. Ob Merz & Co. wie weiland Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED (1971) ein soziales Wohnungsbauprogramm verkünden wird, ist allerdings fraglich. Wahrscheinlicher ist da eher, dass die neue Bundesregierung zur Stärkung der »Kriegstüchtigkeit« den Wehrkundeunterricht an Schulen einführt, wie gegen Ende der DDR Volksbildungsministerin Margot Honecker.
Kurzum, der Beispiele für eine scheinbare Wiederkehr der DDR gibt es viele. Offen benannt wird selbstredend nicht, dass man in vielen gesellschaftlichen Bereichen auf Praktiken im »Arbeiter- und Bauernstaat« zurückgreift. Da sei Gott vor. Das wagen nur die Gottlosen.
Vernünftiges setzt sich halt durch. Freilich nicht automatisch, nur auf Druck der Zivilgesellschaft. Oder dank Widerstand auf der Straße. Aus Angst vor einem Aufruhr der »Ostweiber«, die im Frühsommer 1990 rechtzeitig, laut und selbstbewusst auf Kundgebungen das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper und ihren Kinderwunsch bekräftigten, genehmigten die beim Einigungswerk wortführenden Westmänner ihnen eine Sonderregelung bezüglich Schwangerschaftsunterbrechung (indes nicht ohne die Fuchtel Zwangsberatung). Letztlich profitierten davon auch die Westfrauen. Die vollständige Löschung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch (StGB) steht allerdings noch aus.
Es ist wahrlich ein Mysterium: Auf klandestine, klammheimliche Art und Weise erlebt die DDR ihre Wiederauferstehung. Halleluja.
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