Julian Dax: Small Town Teacher

Er wirkte wie der vergessene schwäbische Stiefbruder von David Bowie und Bryan Ferry – eine Erinnerung an den Studienrat Julian Dax

Achtung, Symbolbild: Sei wie Bryan Ferry, besonders in der schwäbischen Provinz!
Achtung, Symbolbild: Sei wie Bryan Ferry, besonders in der schwäbischen Provinz!

Die Idee der Auferstehung ist eine religiöse Vorstellung. Sie ist weitverbreitet und populär, weil sie dem Menschen die Angst vorm eigenen Verschwinden nimmt. Dem Lexikon zufolge ist damit die »Erweckung Verstorbener nach oder aus dem Tod« gemeint. Nun wissen die Schlaueren unter uns, das ist bislang niemandem gelungen. Das duale Konzept Leben/Tod ist simpel und wenig geheimnisvoll: Wer atmet, lebt, und wer das eines Tages nicht mehr tut, stirbt. Hopp oder top. Wir müssen irgendwann abtreten, damit die uns Nachfolgenden auch eine Chance bekommen.

Doch in einem Punkt können wir den Tod überlisten: Wir, die gegenwärtig noch Atmenden (bevor es demnächst auch uns erwischt), können an Verstorbene erinnern. Auf diese Weise erweisen wir ihnen Respekt dafür, wer sie waren und was sie zu Lebzeiten taten. Und erwecken sie so, indem wir sie vorm Vergessenwerden bewahren, wieder zum Leben. Sei es auch nur für jenen kurzen Moment, den man zum Lesen einer Zeitungsseite braucht.

Ich möchte an einen meiner ehemaligen Lehrer erinnern, den ich sehr mochte und der vor vier Jahren, im April 2021, verstorben ist. Der Traueranzeige zufolge, die in der Lokalzeitung der Gegend erschien, in der ich einst zur Schule ging, wurde er 72 Jahre alt. Sein Name war Julian Dax. Ein nicht gerade alltäglicher Name – für einen Menschen, der aus dem Einerlei des Alltags herausstach.

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In der ersten Hälfte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als er zwei oder drei Jahre lang mein Deutsch- und Englischlehrer war, nahmen ihn sowohl die Schülerschaft als auch seine Kollegen vermutlich als das wahr, was man eine »schillernde Persönlichkeit« zu nennen pflegt. Bereits sein äußeres Erscheinungsbild fiel, betrachtet man die Zeit und den Ort seines damaligen Wirkens, aus dem Rahmen. Der Ort war die tristeste baden-württembergische Provinz; die Zeit waren jene finsteren Jahre der BRD, in denen teils noch die alternden Nazis in den Institutionen saßen; selbst der Ministerpräsident, der den trostlosen Landstrich im Süden Deutschlands von 1966 bis 1978 regiert hatte, war ein ehemaliger NS-Marinerichter.

Herr Dax wiederum, damals Mitte 30, betrat in einer denkwürdigen Aufmachung den Klassenraum: enge rote Lederhose, weiße Lederkrawatte, exotisch gemustertes Hemd und Stiefel mit Absätzen, die direkt aus dem Glam-Rock-Universum zu kommen schienen. Der Aufzug wirkte jedoch nicht geckenhaft, alles war farblich perfekt aufeinander abgestimmt und geschmackssicher und mit Bedacht kombiniert. Das Hemd war gebügelt, das Jackett saß korrekt. Schlampigkeit und Unaufmerksamkeit duldete Herr Dax weder bei sich selbst noch bei seinen Schülern.

Zu bewundern gab es über die Jahre, in welchen man seinen Sinn für Mode und Stil staunend betrachtete, eine ebenso exquisite wie eigenwillige Garderobe. Ich weiß noch, dass auch ein Schlangenledersakko, eine schneeweiße Lederjacke und eine Hose mit Leopardenmuster dazuzählten. Kleidungsstücke, die aussahen, als hätte er sie gerade in der Londoner Carnaby Street gekauft. Und die man seinerzeit im Schwabenland noch niemals gesehen hatte, außer vielleicht im Fernsehen an Leuten, die in Manfred Sexauers Pop-Sendung »Musik-Laden« auftraten.

Dax hatte voluminöses dunkelbraunes Haar, das leicht gewellt war und das er wie eine Art unzerstörbaren Helm streng nach hinten frisiert trug. In den 70ern sollen seine Haare fast schulterlang gewesen sein, doch nach Anbruch der New-Wave- und Post-Punk-Ära wurden sie kürzer. Auf seinem Taschenkalender, der auf dem Lehrerpult lag, befand sich ein Aufkleber, auf dem das Coverfoto des Debütalbums der Band The Police zu sehen war: »Outlandos d’Amour«.

Man hätte meinen können: Das ist der Mann, der den Pop erfunden hat. Und tatsächlich war er für uns eine Art »Mann, der vom Himmel fiel«, mitten hinein in diese öde Region, die aus Kartoffelfeldern bestand und von faschistischen Kleinbürgern bevölkert war. Er war der vergessene deutsche Stiefbruder von David Bowie und Bryan Ferry, den es ausgerechnet als Studienrat an ein schwäbisches Gymnasium verschlagen hatte. Eine glamouröse, beinahe unwirkliche Figur, deren dandyhaftes Erscheinungsbild nicht recht passen wollte zu der vornehmen Zurückhaltung und sanften Strenge, die er im Unterricht oder im Gespräch mit seinen Schülern an den Tag zu legen pflegte.

Dax war auch Filmenthusiast, der, wie dem Blog eines anderen Filmliebhabers zu entnehmen ist, in den Kinos »bevorzugt die damals noch stattfindenden Mittagsvorstellungen besuchte«. Einmal war er sogar im Fernsehen zu sehen, als Kandidat der damals beliebten Quizsendung »Kennen Sie Kino?«, doch er verlor und durfte in der Folgesendung nicht wiederkommen.

Selbstverständlich druckte die Schülerzeitung irgendwann ein Interview mit ihm, dem Popstar des Lehrerzimmers, dessen flamboyantes Auftreten ihn zum bevorzugten Objekt der Neugier der Schüler machte. Ich erinnere mich bis heute an einige seiner Antworten: Danach gefragt, gab er an, dass er in seiner Wohnung etwa 3000 Langspielplatten beherberge. Er schien sie wöchentlich im Dutzend zu kaufen. Er schätze, sagte er, überdies die neuere Science-Fiction-Literatur: Ray Bradbury, Frank Herbert, Isaac Asimov.

Kurze Zeit danach verfasste er regelmäßig Plattentipps für die Schülerzeitung und empfahl neue Alben von Devo, den B-52s, den Cars oder Roxy Music. Alle paar Monate sah man an den Pinnwänden in der Schulaula mit Reißzwecken befestigte DIN-A4-Blätter, auf welchen er alphabetisch – von Blue Öyster Cult bis Frank Zappa – seine nicht mehr benötigten LPs aufgelistet hatte, alle in neuwertigem Zustand, die er für acht oder neun Mark pro Stück zum Kauf anbot.

Seine Leidenschaft fürs Kino, für avancierte Popmusik, zeitgenössische Popkultur insgesamt, verleugnete er nicht, sondern trug sie in seinen Unterricht: So ließ er uns beispielsweise einmal unsere Lieblingsplatten mitbringen, die dann auf einem Plattenspieler vor der Klasse abgespielt wurden; jeder sollte – auf Englisch – fünf, sechs Sätze zu der von ihm gewählten Musik mitteilen. Er machte uns mit Filmen wie »Quadrophenia« und der sogenannten Rock-Oper »Tommy« von The Who bekannt oder ließ uns Songtexte übersetzen. Ich meine: Welcher Lehrer hat vor 40 Jahren im Englischunterricht schon seinen Schülern ein Konzeptalbum von den Kinks, auf dem es um Macht, Hierarchie und autoritäre Erziehung geht, vorgespielt und dabei gemeinsam mit ihnen deren Lied »Headmaster« interpretiert, dessen letzte Verse lauten: »Headmaster don’t beat me I beg you,/ I know that I’ve let you down./ Headmaster please spare me I beg you,/ Don’t make me take my trousers down.«

Im Internet finden sich einige Spuren von Herrn Dax. Ein paar Fotos, die ihn in den 70ern im Beisein von Freunden zeigen: vor einem Headshop (»Forbidden Fruit«) in der Londoner Portobello Road, mit Bluejeans und Rolling-Stones-T-Shirt bekleidet vor einem Plattengeschäft, im Publikum auf einem Status-Quo-Konzert. Auf einem Foto von 1976 ist er, als »Übersetzer« gekennzeichnet, als Teilnehmer bei einem Interview mit der Band Genesis. Aus einer Chat-Nachricht aus dem Jahr 2019 geht hervor, dass er, um beim von einem befreundeten Radiojournalisten geführten Interview »in Zürich« anwesend zu sein, seinerzeit seinen »Beamtenstatus als Lehrer aufs Spiel gesetzt« habe, weil er nicht in die Schule gegangen sei.

Julian Dax hat damals seine Schüler weit mehr gelehrt als den Unterrichtsstoff. Auf seine Art war er ein Wegweiser, der jene, die dafür empfänglich waren, aus der kulturellen Ödnis und dem Konformismus des Hinterwäldlerdaseins hinausführte und ihnen zeigte, dass ein Kosmos jenseits von »Schaffe, schaffe, Häusle baue« und sonntäglichen Gottesdienstbesuchen existiert: die Musik, das Kino, die Literatur, die Kunst. Zum Dank dafür wollte ich ihn in diesem kleinen Text wiederauferstehen lassen.

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