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Inklusion in Berlin: Nicht auf unserem Rücken
Warum Menschen mit Behinderung und ihre persönlichen Assistenzen gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen
Anfang April fand in Berlin der Weltgipfel der Menschen mit Behinderung statt. Warum protestierte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zum Beginn des Kongresses?
Wir haben zum Auftakt des Weltgipfels der Menschen mit Behinderung demonstriert, um deutlich zu machen, dass es auch in unserer Stadt um die ganz konkrete Umsetzung von Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichbehandlung von Menschen mit Assistenzbedarf geht.
Was meinen Sie damit konkret?
Wir stehen mitten in einem Kampf um die vollständige Anerkennung und Refinanzierung eines wichtigen Tarifvertrags für Menschen mit Assistenzbedarf und ihren Beschäftigten: dem bundesweit ersten Tarifvertrag, abgeschlossen mit der Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber*innen mit Persönlicher Assistenz (AAPA e.V.) und Verdi.
Ivo Garbe ist Gewerkschaftssekretär bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in Berlin und zuständig für Verhandlungen in der Metropolregion. Er ist Teil des Fachbereichs Gesundheit, Soziales, Wissenschaft und Bildung.
Worum geht es bei der Persönlichen Assistenz im Arbeitgeber*innenmodell?
Menschen, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, haben in Berlin zwei Möglichkeiten, diese in Anspruch zu nehmen: Sie können entweder einen Assistenzdienst beauftragen oder selbstständig Personen anstellen. Das sogenannte Arbeitgeber*innen-Modell – die ganzheitliche Unterstützung von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen des täglichen Lebens – bietet den Nutzer*innen ein Höchstmaß an Selbstbestimmung. Um einen konkurrenzfähigen Tarifvertrag zu ermöglichen, haben sich die Assistenznehmer*innen zu einem Arbeitgeber*innenverband zusammengeschlossen. Ziel des Tarifvertrags war es, flächendeckend faire Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Wieso ist das Modell jetzt in Gefahr?
Die Senatsverwaltung weigert sich, den Tarifvertrag dauerhaft anzuerkennen. Zudem weigert sie sich, die Löhne entsprechend der letzten Tarifeinigung zwischen Verdi und AAPA e.V. analog des Tarifabschlusses des öffentlichen Dienstes der Länder zu erhöhen und eine Inflationsausgleichsprämie auszuzahlen. Somit werden die Assistenzkräfte im Arbeitgeber*innen-Modell deutlich schlechter bezahlt als Assistenzkräfte bei einem Träger. Sie bekommen dadurch derzeit monatlich 340 Euro weniger für die gleiche Tätigkeit.
Wie stark ist die gewerkschaftliche Organisierung in der Persönlichen Assistenz?
Es war eine gewerkschaftliche Sternstunde, als sich engagierte Kolleg*innen der Persönlichen Assistenz im Arbeitgeber*innenmodell auf den Weg machten. Ermutigt waren sie auch vom Versprechen der damaligen Sozialsenatorin Elke Breitenbach, dass bei Vorliegen eines Tarifvertrags dieser selbstverständlich anerkannt und refinanziert werden würde. Noch zu Corona-Zeiten haben sich die Arbeitgeber*innen zusammengetan und einen Arbeitgeberverband gegründet und die Persönlichen Assistent*innen haben sich bei Verdi organisiert und eine Tarifkommission gewählt.
Haben sie auch Verbesserungen erkämpfen können?
Sie haben gemeinsam in zweieinhalb Jahren intensiver Verhandlung ihre eigenen Erfahrungen und Expertisen eingebracht und im Ergebnis einen Tarifvertrag der Persönlichen Assistenz im Arbeitgeber*innenmodell abgeschlossen, der den Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« mit dem identischen Tätigkeitsmerkmal zur Persönlichen Assistenz wie bei den Diensten sicherstellt. Die gemeinsamen kollektiven Lernprozesse, starke Solidaritätserfahrungen und ein unermüdlich engagierter Einsatz für die eigenen Rechte, für Selbstbestimmung, Teilhabe und Gleichbehandlung haben Mut gemacht und geben Kraft für den harten Kampf um die vollständige Anerkennung und Refinanzierung des eigenen Tarifvertrags. Immer mehr Persönliche Assistent*innen organisieren sich in Verdi und haben dort eine starke Stimme. Wir sind in Vorbereitung für weitere zeitnahe Aktionen und werden, wenn notwendig, die Proteste weiter zuspitzen.
Warum gibt es jetzt ausgerechnet unter der sozialdemokratischen Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe Probleme?
Das verstehen wir auch nicht. Ihr bisheriges Verhalten ist ein schwerer Schlag ins Gesicht für den neu gegründeten Arbeitgeberverband AAPA e.V. mit über 150 Mitgliedern, die rund 1000 Beschäftigte angestellt haben und der Gewerkschaft Verdi, die in unserer Stadt über 100 000 Mitglieder vertritt. Senatorin Kiziltepe meint im Moment auf dem Rücken der Menschen mit Assistenzbedarf Einsparungen machen zu können, weil sie ihrer Meinung nach nicht verpflichtet sei, den Tarifvertrag zu refinanzieren. Anders als in ihren sonstigen Verlautbarungen will sie die Tarifbindung in diesem Fall nicht stärken und bricht das Versprechen des eigenen Koalitionsvertrags und ihres Staatssekretärs Aziz Bozkurt, der in der Sozialausschusssitzung im April letzten Jahres noch verkündete, dass die Bezahlung der Entgeltgruppe 5 gesichert sei und der Senat auch bei einer möglicherweise entstehenden Finanzlücke die Kosten dafür zur Verfügung stellen würde.
Was passiert mit dem Geld, das für die Refinanzierung des Tarifvertrags vorgesehen war?
Im November 2024 veranlasste Sozialsenatorin Kiziltepe, dass im Haushalt gesetzlich hinterlegte Mittel für die Persönliche Assistenz im Arbeitgeber*innenmodell in Höhe von sechs Millionen Euro für andere Zwecke ihres Ressorts umgewidmet wurden. Mit diesen Mitteln wären die vereinbarten Lohnerhöhungen von 200 Euro im November 2024 und weiteren 5,5 Prozent im Februar 2025 voll ausfinanziert gewesen, wie Frau Kiziltepe im März 2025 gegenüber dem Hauptausschuss selbst ausführte.
Was würde ein Ende der Persönlichen Assistenz im Arbeitgeber*innenmodell für die betroffenen Menschen bedeuten?
Die Folgen wären dramatisch für die konkrete Versorgung der Arbeitgeber*innen, sie wären drastisch für die Arbeitsplätze der Persönlichen Assistent*innen. Es wäre ein herber Rückschlag für die emanzipatorische Bewegung der Menschen mit Assistenzbedarf in der Hauptstadt und ein Tarifbruch des Berliner Senats. Die Betroffenen fordern gleichen Lohn für gleiche Arbeit und warnen vor dem drohenden Rückbau selbstbestimmter Assistenz. Sie sehen darin einen Bruch der UN-Behindertenrechtskonvention sowie eine Abkehr von den Prinzipien der Inklusion.
Bei Ihrem Protest Anfang April war auch die ehemalig Sozialsenatorin Elke Breitenbach anwesend. Wie steht Sie zu Euren Forderungen?
Sie kam nicht nur solidarisch zu unserer Protestkundgebung zum Auftakt der Weltgipfels der Menschen mit Behinderung, sondern sie steht auch hundert Prozent hinter unseren Forderungen. Sie appelliert an alle Verantwortlichen sofortige Gespräche zur Lösung des Tarifkonflikts zu führen, um Tarifbruch und das Ende der Persönlichen Assistenz im Arbeitgeber*innenmodell abzuwenden.
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