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Tierversuche: Kontrolle über Leben
Eine Kampagne für Tierversuche bedient sich feministischer Rhetorik
An diesem Donnerstag ist der Internationale Tag des Versuchstieres. Der Ehrenpräsident der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft, Frank Kirchhoff, hat seine Kolleg*innen dazu angerufen, sich just an diesem Tag öffentlich dazu zu bekennen, dass sie Tierversuche durchführen. Unter dem Motto »Wir machen Tierversuche« kopiert er dabei eine feministische Kampagne im »Stern« von 1971 (»Wir haben abgetrieben«).
In Deutschland sterben jährlich über 3,5 Millionen Tiere in Versuchen. Über 60 Prozent dieser Experimente finden in der Grundlagenforschung statt, also ohne unmittelbaren Nutzen. Das Vertrauen der Bevölkerung ist gering: 84 Prozent sprechen sich gegen Tierversuche aus. Die scheidende Bundesregierung wollte deren Zahl reduzieren, blieb aber eine Regelung schuldig.
Kirchhoff dagegen stuft die Kritik an Tierversuchen als »Missverständnisse« ab. Dadurch entwertet der Neurowissenschaftler fachlich und ethisch fundierte Einwände und degradiert Zweifel am Status quo als irrational. Und er bedient sich nun ausgerechnet der »Stern«-Kampagne gegen patriarchale Kontrolle und für das Recht auf Selbstbestimmung, während er selbst für einen Wissenschaftsbereich steht, der auf Kontrolle und Verfügbarkeit von Leben basiert.
Gerade der Ökofeminismus kritisiert diese Herrschaftsverhältnisse seit Jahrzehnten: Er zeigt auf, wie sehr die Unterdrückung von Frauen und die Ausbeutung von Tieren und Natur miteinander verwoben sind. Historisch lasse sich demnach zeigen, dass die Zuschreibung von Emotionalität und Abhängigkeit, die Kontrolle über Frauen und Tiere durch eine »rationale« und androgyne Wissenschaft erst legitimierte, so die Kritik. Tierversuche lassen sich so als Ausdruck eines Denkens verstehen, das Leben in beherrschbare binäre Kategorien teilt: in Subjekt und Objekt, Mensch und Tier, Mann und Frau. Die Praxis der Tierversuche verdeutlicht das: Die Vorstellung, lebendige Organismen mechanistisch zu kontrollieren, folgt einem Weltbild, das Natur und insbesondere weiblich codierte Körper unterwirft.
Die Neurowissenschaften, Kirchhoffs Fachgebiet, sind besonders tierversuchsintensiv. Dass gerade hier unter dem Banner der Forschungsfreiheit gegen ethische Regulierungen mobilisiert wird, ist kein Zufall. Wissenschaft wird so zur Bühne für Besitzstandswahrung – gegen Alternativen, die bereits existieren. Dazu zählen künstlich hergestellte menschliche Haut, Molekularverfahren mit menschlichen Zellen und Computersimulationen einzelner Organe. Ziel sind sogenannte Human-on-a-Chip-Verfahren, die Körperprozesse realitätsnah abbilden.
Der Widerstand gegen diesen Wandel wird zur Identitätspolitik, wie Kirchhoffs Initiative zeigt. Wissenschaft, so zeigt die feministische Theorie, wurde über Jahrhunderte als männlich, rational und objektiv konstruiert und damit als Gegenbild zum subjektiven und irrationalen Weiblichen. Die Wissenschaftstheoretikerin Evelyn Fox Keller beschrieb diesen männlichen »Tatgeist« als Grundstruktur moderner Forschung, die sich bis heute in den Methoden, Institutionen und Machtverhältnissen wiederfindet.
Wer Tierversuche kritisiert, gilt schnell als wissenschaftsfeindlich. Dabei zeigen Studien: Über 90 Prozent der Ergebnisse aus Tierversuchen sind nicht auf den Menschen übertragbar. Human relevante, tierfreie Verfahren werden unterdessen systematisch unterfinanziert. Dabei bräuchten gerade sie einen gesetzlichen Rahmen, der sie im viel beschworenen Feld der Exzellenzcluster-Initiativen als Innovationsbooster fördert.
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