IG Metall: »Haben uns auf Erfolgen ausgeruht«

IG-Metall-Gewerkschafterin Chaja Boebel über das Erstarken der extremen Rechten in den Betrieben

  • Interview: Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 5 Min.
Gewerkschaften auf einer Kundgebung zum Holocaust-Gedenktag in Kiel
Gewerkschaften auf einer Kundgebung zum Holocaust-Gedenktag in Kiel

Das Erstarken der extremen Rechten nimmt weiter an Fahrt auf und macht sich auch in den Betrieben bemerkbar. Woran liegt das?

Zum einen gibt es die gut erforschten mindestens acht Prozent der Bevölkerung mit geschlossen rechtsextremem Weltbild. Mit einer Partei wie der AfD haben die Leute ein politisches Angebot bekommen. Zum anderen punkten sie in den Betrieben, wo die Unsicherheit mit Blick auf die Transformation besonders groß ist, etwa im Bereich E-Mobilität. Dort kanalisieren sie die Unzufriedenheit mit einer anti-emanzipativen Kümmererpolitik. Da ist erkennbar, dass der extrem rechte Verein »Zentrum« stark ist, wo wir schwach sind.

Wie meinen Sie das?

Schwäche zeichnet sich nicht nur durch geringe Zustimmungswerte für die IG Metall aus. Es ist eine Frage der Qualität unserer Arbeit. Lange Zeit hat der Verein »Zentrum«, der der AfD nahesteht, ein Narrativ entwickelt. Dass wir zu eng mit den Arbeitgebern zusammenarbeiten, dass wir zur Elite gehören und nicht Arbeiter*inneninteressen vertreten, dass unsere Betriebsräte nicht nahbar und zu selten in der Werkshalle unterwegs sind. Da gibt es eine große Diskrepanz zwischen dem, was wir tatsächlich erkämpft haben und dem, was für die Beschäftigten nachvollziehbar ist. Vor dem Hintergrund diskutieren wir die Frage, wie eine bessere Öffentlichkeitsarbeit gelingen kann, um die Leute mitzunehmen.

Alles also nur eine Frage der richtigen Kommunikation?

Nein, aber es hängt schon vieles an der Kommunikation. Wir haben früher in den Großbetrieben häufig gesagt: »Okay, du kriegst deinen Arbeitsvertrag, du wirst Mitglied und alles ist gut.« Aber wir müssen deutlich machen, wofür die Gewerkschaft steht und wie die Betriebs- mit der Gesellschaftspolitik verbunden ist. Dadurch werden Leute sprechfähig und können in ihren Abteilungen in die Debatte gehen, sich gegen Antisemitismus, Rassismus oder Diskriminierung aussprechen. Diese Repolitisierung – das meine ich nicht im Sinne einer Parteipolitik – bedeutet: Erkenne dich in deiner Struktur. Was ist dein Arbeiter*innenhintergrund? Wo kommt die AfD her? Wo steht »Zentrum«? Bei denen geht es nicht um oben und unten, sondern um innen und außen. Und was haben wir erkämpft? Wenn man merkt, dass eine Anspruchshaltung vorhanden ist, die lange Zeit nicht mehr inhaltlich gelebt wurde, ist das ein wichtiger Ansatzpunkt. Es ist ja hochpolitisch, den Leuten ein Bewusstsein für ihre Lage zu vermitteln und aufzuzeigen, was situationsverändernd wirken kann.

Interview

Chaja Boebel ist Historikerin und bei der IG Metall im Vorstandsressort Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik für Demokratie und den Kampf gegen rechts zuständig. Davor war sie in der Gewerkschaft als politische Bildnerin tätig.

Haben die Gewerkschaften die Entwicklung verpennt?

Das würde ich nicht sagen. Aber wir haben uns lange Zeit auf unseren Erfolgen ausgeruht und sind davon ausgegangen, dass man das betrieblich so weitertreiben kann. Dabei wurde auch mit Blick auf neue Generationen ausgeblendet, dass die betriebliche und die gesellschaftliche Ebene überhaupt nicht voneinander zu trennen sind und dass man im Betrieb mit den Auswirkungen gesellschaftspolitischer Debatten nicht nur leben, sondern dass man sich ihnen stellen muss. Es genügt nicht, erklären zu können, warum der Kantinenausschuss diese oder jene Entscheidung getroffen hat. Es geht auch darum zu zeigen, dass wir auf die Demokratie angewiesen sind und die AfD dafür eine Bedrohung ist.

Was bedeutet das für Ihre Ansätze?

Wir haben uns nach einem langen Diskussionsprozess entschieden, uns weniger auf die AfD zu fokussieren. Wir fragen, was unsere eigenen Themen sind, die die Leute beschäftigen. Und wie wir damit nach vorne gehen können, damit sie wissen, dass man mit uns eine starke Hand an der Seite hat. Dabei haben wir den emanzipativen Anspruch: »Ihr könnt mit uns Dinge verändern.« Denn je mehr Selbstwirksamkeitserfahrungen Menschen im Betrieb machen, umso geringer ist die Gefahr, dass »Zentrum« erfolgreich ist. Dabei müssen wir auch darüber diskutieren, was die demokratische Grundlage bei diesen Erfahrungen ist. Also wie man eine inklusive Solidarität schafft, die nicht nur bestimmte Gruppen einschließt.

Beim Protesttag der IG Metall im März wurde standortpatriotisch die Bedeutung der Industriearbeit für die Nation beschworen. Ist das kein Problem?

Die Forderung nach Erhalt des Industriestandorts ist notwendig, auch weil unsere Mitglieder das von uns verlangen. Die Schwierigkeit ist, dass wir das differenziert diskutieren müssen: Wir stehen mit den ganzen Betrieben in einem internationalen Zusammenhang über Lieferketten, Gesetze und anderes. Das heißt, ein reiner Standortnationalismus wird uns nicht weiterhelfen, weil der uns auch in der gesellschaftspolitischen Debatte in die falsche Richtung führt. Wir müssen eine Balance hinkriegen, einerseits den Leuten zu sagen: Wir bemühen uns um den Erhalt eurer Arbeitsplätze. Aber wir wollen sie auch weiterentwickeln, um den Wohlstand zu sichern. Das erfordert von uns einen hohen Grad an Sensibilität.

Von Linken wird mit Blick auf nationalistische Krisenantworten der Klassenkampf in Anschlag gebracht. Imitiert man damit nicht bereits gescheiterte Versuche?

Gewerkschaften haben einen Daseinszweck, wenn die Menschen, die darin organisiert sind, sich der Tatsache bewusst sind, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Das meine ich unabhängig von allen Debatten um Definitionen. Sie befinden sich in einer Abhängigkeit von den Unternehmern, bei denen sie arbeiten. Dieser Widerspruch ist, was ihre Situation im Betrieb und ihre Lebensbedingungen ausmacht. Ich denke, dass hier mehr Bewegung möglich ist. Aber dafür müssen wir wegkommen von dem Bild einer Versorgungsorganisation mit Sterbegeld, Unfall-Versicherung und so weiter. Wir müssen den Blick darauf richten, was wir erkämpft haben. Im 19. Jahrhundert waren die Arbeitstage bis zu 16 Stunden lang und heutzutage müssen wir den Acht-Stunden-Tag verteidigen. Ich persönlich wünsche mir andere Rahmenbedingungen, aber im Moment sehe ich da keine große Perspektive. Gerade muss den Leuten klar werden, wie viel auf dem Spiel steht. Wenn ich schaue, was weltweit los ist, oder in die USA gucke, da bricht in einer rasenden Geschwindigkeit etwas zusammen, was wir erkämpft haben. Insofern ist der Blick zurück und der Erhalt des Gegenwärtigen im Prinzip auch Teil einer Utopieentwicklung.

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