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Flucht und Familie

Die Hamburger Dokumentarfilmwoche betrachtete in kompromisslosen Filmen die grausame Gegenwart

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 6 Min.
Szene aus »Prisoners of Fate« von Mehdi Sahebi
Szene aus »Prisoners of Fate« von Mehdi Sahebi

Mit ihrem Geschick, der historischen Entwicklung um Kopfeslänge voraus zu sein, stellte die diesjährige Hamburger Dokumentarfilmwoche gerade das in den Mittelpunkt, was die Rechte wie nichts anderes umtreibt: Migration. Das Thema hat allerdings seit dem Amtsantritt von Donald Trump eine neue Färbung angenommen. Endlich zeigt sich die Ohnmacht der Vertreiber und die wachsende Macht der Vertriebenen. Zuletzt hat Floridas Gouverneur Ron DeSantis angekündigt, dass er, weil ihm aufgrund der massenhaften Deportationen Erntehelfer fehlen, die Kinderarbeit ausweitet.

Man mag es noch nicht überall erkennen, aber die Leute, die vertrieben werden, werden nicht nur fehlen, ihnen wird bald schon die Welt gehören. Moralisch sind sie uns ohnehin überlegen. Eine glänzende Szene in »Prisoners of Fate« von Mehdi Sahebi beweist das: Weihnachten sollen Kinder einer Schweizer Vorschule ihren größten Wunsch aufschreiben. Die kleine Elmira, deren Eltern aus dem Iran geflüchtete Afghanen sind, wünscht sich ihren sechsjährigen Bruder zurück, dem die Behörden die Einreise verweigern. Dagegen wünscht sich ihr Freund, reich zu sein. Elmira warnt ihn davor, Familie gegen Fränkli einzutauschen.

Familie oder Geld, Verbundenheit oder Verdinglichung – das scheint oft die Alternative zu sein. Doch obwohl Familie als letzter Rückzugsort gilt, steht sie inzwischen eher für Trennung denn für Gemeinsamkeit. In »Tempi passati« von Kristina Konrad, der in Hamburg eine Werkschau gewidmet war, stellt sich die Gemeinsamkeit zwischen Mutter und Tochter erst nach langer Zeit wieder her, in der die Tochter sich unter anderem an der Revolution der Sandinisten beteiligt hat. Nun beobachtet sie den Niedergang der alten Dame, abzulesen an deren sich immer weiter verlangsamenden Reinigungsritualen, die der Filmschnitt glücklicherweise nicht abkürzt.

Familie hat etwas Konservatives, oft Reaktionäres. Das erzählt Samira El Mouzghibati in ihrem sehr intimen »Les Miennes/(Y)Our Mother«. Die aus Marokko stammende Mutter der Filmemacherin wird mit einem Jungen aus dem Nachbardorf verheiratet. Beide übersiedeln nach Belgien, wo der Mann die Frau drängt, sich europäischen Verhältnissen anzupassen. Er geht mit ihr sogar ins Kino – von dessen Gewalt sie zutiefst angewidert ist. Nun nimmt sie wieder den Schleier und hält auch gegen ihre fünf emanzipierten Töchter an ihrer Rebellion wider eine gewalttätige Moderne fest.

Familie kann Sprachlosigkeit und Trauma bringen, wie zwei berührende Kurzfilme vor Augen und Ohren führen: In »O Ma/before then« teilt Mengzhu Xue ihrer geliebten Großmutter sehr vermittelt (auf Englisch, einer Sprache, die die alte Chinesin nicht versteht) das Geheimnis mit, schon seit sieben Jahren mit einer Freundin liiert zu sein. »Ich hätte lieber einen anderen Film gemacht« von Suse Itzel berichtet vom Missbrauch durch einen Vater, der – irritierendes Detail – bei Theodor W. Adorno studiert hat. Beide Filme sind visuell besonders stark, vielleicht weil sie ihr Geheimnis (Xue) oder ihr Trauma (Itzel) gerade nicht bebildern können und deshalb zu indirekten Formen des Ausdrucks gezwungen sind.

Noch einmal zurück zur Migration. Nicht alle Filme, die das Thema aufgreifen, wählen die Naheinstellung. »Landschaft und Wahn« von Nicole Vögele fasst die Menschenwanderungen panoramatisch, fast monumental. In »La Base« (Der Stützpunkt) porträtiert Vadim Dumesh die aus aller Herren Länder stammenden Taxifahrer am Pariser Flughafen Charles de Gaulle – und sie porträtieren sich mit Handykameras selbst. Während sie auf einen Einsatz warten, spielen sie Trompete, singen Karaoke, sie beten oder putzen. Vor allem erweisen sie sich als große Philosophen, die das Ende kommen sehen. Schon rückt mit selbstfahrenden Autos, mit Uber und der Betonlandschaft des neuen Stützpunkts die »Ère de rien« (Epoche des Nichts) näher, die Jacques Dutronc besang.

In Hamburg herrschte der subjektive Blick auf die Vergangenheit vor, doch manchmal hätte man sich mehr Sachlichkeit gewünscht. Kamal Aljafari hat in »A Fidai Film« schockierende filmische Dokumente aus der Geschichte Palästinas künstlerisch bearbeitet, was ihnen einerseits ihre Geschichtlichkeit nimmt, sie andererseits zu zeitlosen Schrecken erstarren lässt: Palästina vor 100 Jahren, Palästina heute – es sind dieselben Bilder. Über starkes Archivmaterial aus einem besetzten Land verfügt auch Milisuthando Bongela-Davis in »Milisuthando«; auch sie treibt wie Aljafari der Ehrgeiz, dem Material einen persönlichen Einschlag zu geben. Doch wirkt der politische Hintergrund des Films – das Homeland Transkei im Südafrika der Apartheid – interessanter als die Erfahrung des Rassismus, die die Filmemacherin leider mit sehr vielen teilt.

Wie Vögele und Dumesh, aber nicht impressionistisch, sondern höchst systematisch setzt Marcin Wierzchowski in »Das Deutsche Volk« ein kollektives Drama aus vielen Einzelstimmen zusammen. Es geht um die Morde von Hanau 2020. Die Angehörigen der Opfer erweisen sich als bewundernswert kämpferisch und klug, sie haben ebenso kämpferische und kluge Unterstützer, etwa die Agentur Forensic Architecture, aber man muss nicht in den Koalitionsvertrag der kommenden Regierung schauen, um einzusehen, dass der Protest gegen eine teils offen rassistisch agierende Polizei fast aussichtslos war und es jetzt umso mehr ist.

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Nationalismus und Militarismus marschieren mit Getöse voran. Zwei Tagebuchfilme von Heinz Emigholz waren deshalb an Aktualität kaum zu überbieten. In »NYC, October 10, 2022« präsentiert er einen grandiosen Monolog des Zeichners Art Spiegelman (»Maus«) über die Kraft von Kunst und Comic, rassistische Stereotype zu überlisten. Und in »Innsbruck, 6. März 2023« reflektiert Emigholz auf subtile Weise die Kommodifizierung von Krieg: In einem Hotelzimmer läuft auf dem Laptop Karl Kraus’ Lesung seiner »Reklamefahrten zur Hölle« (1921) über Schweizer Touristen in Verdun, die Kamera blickt derweil aus dem Fenster und fängt Container der Logistikfirma Raben ein. Das ist ein makabrer Zufall, denn in Kraus’ »Letzten Tagen der Menschheit« (1922) sind die sich an Leichen labenden Raben Kriegsgewinner: »Hunger hat uns nie gepeinigt,/seit wir folgen euren Heeren.«

In einem Krach wie dem unserer Zeit wird das Unscheinbare utopisch. Pierre Creton und Vincent Barré begleiten in »7 Walks with Mark Brown« einen Paläobotaniker auf seinem Gang durch die Normandie. Immer wieder stößt er Schreie der Verzückung aus, wenn er Pflanzen begegnet, als wären es lange vermisste Bekannte. Für ihn sollte die Bibel umgeschrieben werden: »Und alles Gras, das ist wie Fleisch.« Die Vergangenheit heimischer Pflanzen reicht Jahrmillionen zurück, ihre Zukunft ist allerdings so unsicher wie unsere. Und nicht allein die Technologie des Krieges stellt das Menschliche infrage.

In dem bewegenden Kurzfilm »Die Stimme des Ingenieurs« hält André Siegers die Bemühung seines Vaters fest, den Klang seiner Stimme, die er aufgrund einer Krankheit verlieren wird, mit elektronischer Hilfe zu konservieren. Da der Vater ohnehin schon viel an Geräte delegiert hat, fragt ihn ein Helfer, ob er sich nicht mit irgendeinem Sprachroboter bescheiden könne. Der Vater antwortet stolz, auch die Intonation gehöre zu seiner Persönlichkeit. Aber was wird in einigen Jahren noch verlässlich zu unserer Persönlichkeit gehören? Und könnte der vorliegende Artikel nicht auch von einer KI geschrieben worden sein? Auf diesem Gebiet werden noch viele Gewissheiten erschüttert werden – Stoff für die nächsten Jahre.

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