Der Herr der Maßnahmen

Lothar Kwiring ist in Pritzwalk bei beinahe jedem Fünften bekannt. Und beinahe jeder Fünfte grüßt ihn

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 10 Min.
Neujahrsempfang auf Schloss Bellevue. Zum Bundespräsidenten geladen verdiente Bürger der Republik, im ausgewogenen Proporz der Geschlechter und der Länder. Das Defilé: Vorbeimarsch der Werte, für die Deutschland steht oder stehen möchte: Engagement für Umweltschutz, Suchtbekämpfung, Behinderte, Folklore, Existenzgründung, Dialog der Kulturen, Rheumatiker, Asthmatiker, Kinder, Ausländer...
Ein Wert stolpert, einer schwitzt, einer reißt die Augen auf, einer schreitet selbstbewusst. Wir lieben sie alle, vor allem die, die wir im Alltag oft vermissen. Frau Rosita Korn, Berlin: Sammelt Bekleidung, kauft Lebensmittel und verteilt sie unter den Ärmsten. Herr Klaus-Peter Kozian, Ulrichshusen: Erwarb sich Verdienste bei der Prävention von Jugendkriminalität. Herr Lothar Kwiring aus Brandenburg, Pritzwalk: Setzt sich für Arbeitslose ein, leitet ein Arbeitslosen-Zentrum.
Deutschlands Nöte im kleinen Schwarzen, im Anzug oder im Kostüm. Aftershave und ein Spritzer Cerruti.

Die Prignitz hat im Januar schon erste Weidenkätzchen getrieben. Neben der Preussen-Brauerei steht ein flacher Plattenbau mit kurzen Gängen, Büros, Toiletten. Die Räume von PRIALOZ. Für den Bruchteil eines Moments denkt man verwirrt an Trojas König, dann flackert die Hoffnung auf, hier Leute mit Humor zu treffen: PRIALOZ, was für ein Name für Pritzwalks Arbeitslosen-Service-Zentrum.
Es ist eines von 38, die es heute in Brandenburg gibt. »Nichts besonderes also«, meint Lothar Kwiring, der in einem engen Büro sitzt, das sich nicht beschreiben lässt, weil es nichts zu beschreiben gibt, »so wenig, wie ich was Besonderes bin.« Das sagt nahezu jeder Zweite, den meine Zunft für sich entdeckt. Wir widersprechen, doch meistens stimmt es.
Kwiring ist Mitte, Mitte fünfzig. Mittelgroß und unauffällig. Gepflegtes Erscheinungsbild: Grundfarbe schwarz unterm lindgrünen Blazer, kurze Nägel, guter Haarschnitt. Eine Griebe keimt an der Unterlippe, weshalb er unseren Besuch gern hinausgeschoben hätte. Vielleicht ist er ein bisschen eitel. Doch wer wäre das nicht, und hervorstechen würde nur, wenn er es nicht wäre. Er hat eine Frau und einen Hund und geht jeden Morgen zur Arbeit...
Halt! Letzteres unterscheidet ihn von jedem fünften Prignitzer. Die Arbeitslosigkeit in der Region liegt zwischen sechzehn und achtzehn Prozent, da ist es nicht unerheblich, auf welcher Seite des Schreibtischs man sitzt. Kwiring sitzt auf der richtigen. Er hatte Glück, und das weiß er natürlich. Seine Mundwinkel sind federleicht, nicht bleischwer, ständig nistet in ihnen ein Lächeln. Auch wenn er sagt: »Unter zwanzig Prozent! Da winkt man jetzt schon ab: Das geht noch. Die Politik gewöhnt sich daran: Als ob es so sein müsste!«
Damals, als der Ingenieurpädagoge vom Pritzwalker Zahnradwerk mit einem Häuflein seiner Kollegen eilig ausgegliedert wurde, um eine AFÖ zu gründen (so nennt man im Verwaltungsdeutsch eine Arbeitsförderungsgesellschaft), gaben sie sich ein knappes Jahr. Ein knappes Jahr würde genügen, bis sie alle Abgewickelten an die Firmen vermittelt hätten, die in den neuen Gewerbepark drängten. Heute beschäftigt PRIALOZ Jahr für Jahr rund hundert Leute. So viel, wie fünf Mittelstandsbetriebe. PRIALOZ ist ein Großunternehmen und wird professionell geführt: Kwiring ist der Manager. »Man braucht professionelle Distanz, keinen missionarischen Eifer. Der macht mehr kaputt als er nützt«, erklärt er.

Manager, wie man sie sich vorstellt, sind etwas Besonderes per se. Sie sind Vorreiter, Elite. Von ihren Fähigkeiten hängt ab, wie Unternehmen sich entwickeln. »Sie versagen«, meint Steffen Wiersch, Kwirings alter Zahnradkollege. Wiersch: Maschinenbauingenieur und der Mann im Hintergrund, Chef jener alten AFÖ, die nun Träger von PRIALOZ ist. Wuchtig, mit wild wucherndem Bart und gestreiftem Woolworth-Shirt sieht er immer noch so aus, als ob sein Arbeitsplatz eine Werkhalle wäre. Wahrscheinlich träumt er davon, noch immer.
Wiersch sagt also: »Sie versagen. Es stimmt nicht, dass wir hier in Deutschland zu viele Arbeitskräfte haben. Das hieße im Umkehrschluss, kleine Völker hätten zu wenig. Die Frage ist doch, was für Produkte die Unternehmen hier entwickeln. Wenn wirklich Nachfrage bestünde, könnten sie gar nicht genug Leute einstellen und beschäftigen.«
Irgendwann stand das im »Spiegel«. Und irgendwann war das auch richtig. Nur spielen Deutschlands Manager längst nicht mehr in der nationalen, sondern in der globalen Liga, womit sie sich der Verpflichtung entheben, über so banale Dinge wie Beschäftigung überhaupt nachzudenken. Bei Kwiring liegen die Dinge anders. PRIALOZ geht es nicht um Gewinn, sondern ganz im Gegenteil: Je mehr Beschäftigte, desto besser. Und Jahr für Jahr hundert sind eine Menge. Falls es irgendwann weniger würden, wäre Kwiring schnell der letzte. Und die Zahl der Arbeitslosen, die die Wirtschaft hinterlässt, schnellte weiter in die Höhe.
Von den Managern seiner Klasse, so Wiersch, sei Kwiring einer der besten. PRIALOZ erstellt Bewerberprofile, bietet Beratung und praktische Hilfe, knüpft Kontakte zu Arbeitgebern, plant und realisiert Projekte - das Zentrum lebt von Lobby-Arbeit. Natürlich wird es vom Land gefördert. Natürlich Jahr für Jahr Kampf um die Mittel. Da auch die anderen Zentren im Land, von denen der Arbeitslosenverband nahezu zwei Drittel trägt, Jahr für Jahr diesen Kampf führen müssen, haben sich die kleineren Träger - Fördergesellschaften, Kommunen oder kirchliche Einrichtungen - zu einem Verein zusammengetan, der sich, auch bei landesweiten Aktionen, für die »gerechte Förderung« der arbeitslosen Bevölkerung einsetzt. Kwiring ist Vorsitzender und Sprecher.
Seine Chance, Politik zu machen. Sich darüber zu empören, dass die »Faulenzerdebatte« das Terrain vorbereiten soll, um die Arbeitslosenhilfe in Sozialhilfe zu überführen. Zu bemängeln, dass Menschen aufgegeben und dann abgeurteilt werden. Zu sagen, man habe noch nicht begriffen dass Kombilohn und Mainzer Modell, bei denen der Staat den Unternehmen und Arbeitssuchenden Geld dazu gibt, chancenlos sind, »weil die Unternehmen das Geld so lange mitnehmen, wie ihre Auftragslage gut ist und sie sowieso einstellen müssten«. Zu kritisieren, dass es keine Anreize gibt, damit Betriebe sich auch sozial engagieren. Zu wettern, dass man Arbeitslose auf Teufel komm raus qualifiziert, obwohl jeder ganz genau wisse, dass sie nie in Arbeit kommen werden: »Wir wehren uns gegen Umschichtungen, die zu Lasten des zweiten Arbeitsmarkts gehen!« Eine Interessenvertretung für Arbeitslose? Sie haben keine andere. Es ist ihre einzige in der Gesellschaft.
Und es macht ja auch durchaus Sinn, wenn ihre Interessen auch Kwirings sind. Wenn er in der Vereinsarbeit Kontakte knüpft, die PRIALOZ nützen. Es schadet nicht, dass er im Stadtrat sitzt und im städtischen Präventionsrat gegen Rechtsextremismus antritt. »Das greift ja alles ineinander«, sagt er mit einem Schulterzucken, und alles, was er sagt, ist richtig. Im Stadtparlament und im Präventionsrat lernt er potenzielle Partner kennen. Partner für PRIALOZ-Projekte, die Jahr für Jahr hundert Arbeitslose auf den zweiten Arbeitsmarkt bringen.

In der Pritzwalker Gärtnerei nutzt PRIALOZ eine Baracke. Tassen klappern, Frauen schnattern, Pause in der Frauenwerkstatt. Kwiring platzt mit uns hinein. Kurzes Aufblicken, Innehalten, beiläufiges Kopfnicken. Als ob Kwiring dazu gehörte. Was ja auch stimmt, in gewisser Weise. Später werden die Frauen erzählen: »Man kann mit allem zu ihm gehen.« »Er gibt einem Hilfestellung.« »Er ist freundlich, nie abweisend.«
Auf die Werkstatt ist Kwiring stolz. Hier beschäftigt er vor allem Frauen, »die vom Land kommen und dort versteckt und zurückgezogen leben«. Aus all den Personalgesprächen, die er in den letzten Jahren führte, weiß er genau, warum das so ist: »Früher hielt der W50 vor ihrer Tür, um sie auf die Felder zu bringen, heute sind sie immobil. Sie sind verschüchtert und haben sich inzwischen zu Hause eingerichtet.« Er weiß auch, dass das »ganz normal« ist: »Die Motivation fehlt! Sie sind nicht so dumm, dass sie nicht fragten: Was kommt danach? Und dass sie nicht wüssten: Meistens gar nichts.«
Mit der Werkstatt wolle man solchen Frauen die Hand reichen. Ihnen mit gleitenden Arbeitszeiten sozusagen entgegenkommen. »Beweglichkeit des Arbeitgebers«, nennt Kwiring das nicht ohne Polemik - professionelles Management bei umgekehrten Vorzeichen. Doch auch ihm gelingt es nur selten, jemanden vom zweiten Arbeitsmarkt wieder auf den ersten zu bringen. Die klassische Kurve der Maßnahmen: »Erst Skepsis, dann Hochstimmung, die etwa ein halbes Jahr anhält. Dann das Drängen, zu verlängern, die Hoffnung, man sei unersetzlich. Hoffnung, Enttäuschung, Desinteresse. Was bleibt? Nicht mehr als ein halbes Jahr länger Anspruch auf Arbeitslosengeld.«
Die Jüngste der Frauen ist 29, die Älteste erst 51. Eine Qualifikation haben alle - unter ihnen sind Schneiderinnen, Textilfacharbeiterinnen, Tierpflegerinnen. Arbeit findet keine von ihnen. Schon vor Jahren haben sie das Wort »Arbeit« aus ihrem Wortschatz gestrichen und durch »Maßnahme« ersetzt. Wer eine »Maßnahme« bekommt, wird zu Haus, auf den Dörfern, beneidet. Diese »Maßnahme« hier ist Spitze: Sie entwerfen und schneidern Kostüme für den großen Festumzug zur 750-Jahr-Feier Pritzwalks, die 2006 bevorsteht. »Die Hohheiten sind schon eingekleidet«, freut sich Schneiderin Simone. Auch die anderen freuen sich: Bis 2006 wird noch viel zu tun sein, vielleicht kann die »Maßnahme« ausgedehnt werden: »Es wäre doch blöd, immer neue Leute zu holen und einzuarbeiten.«
Das Einarbeiten obliegt den beiden gelernten Schneiderinnen der Gruppe. Sie sind es auch, die unterm Strich die eigentliche Leistung erbringen. Müssten sie nicht von der Stadt regulär unter Vertrag genommen und entsprechend bezahlt werden? Was eine Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt bedeutete? Sicher, wenn Pritzwalk Geld hätte. So wird der Umzug zu großen Teilen vom Arbeitsamt finanziert werden, anders gesagt, von Versicherungsgeldern. Außerdem fallen damit statt zwei gleich fünfzehn Frauen aus der Statistik.
Die meisten von ihnen müssen erst lernen, was die Schneiderei verlangt: Knopflöcher und Nähte steppen, Reißverschlüsse einnähen. Das werden sie nutzen können, wenn sie wieder zu Hause sitzen. Auch Deckchen häkeln und Wollsocken stricken. Man muss es gesehen haben: In einem der höchst entwickelten Industrieländer der Welt stricken Frauen Wollsocken, eine Socke per Hand pro Tag, um sich ihren Unterhalt zu verdienen, weil sie nichts anderes finden können! Haben wir sie denn noch alle? Dass wir uns das bieten lassen?
Kwiring, der fraglos sein Bestes gibt, ist unermüdlich auf der Suche nach Projekten, die »anspruchsvoller« sind. Und weil er gut ist, findet er welche. Unter anderen bietet PRIALOZ die Maßnahme »Stadtmodell 1930« - während die Gruppe »Architekten« in Archiven nach alten Plänen gräbt, entsteht in der Gärtnereibaracke schon das Modell, Maßstab 1:100000, für das neue Stadtmuseum. Kwiring: »So ein kompliziertes Modell könnte gar keiner bezahlen.« Als »Maßnahme« wird es weit billiger. »Und vielleicht«, überlegt Kwiring, »stoßen wir ja auf einen Markt! Dann könnten wir das ausgründen, und die Leute würden mal wieder richtig was verdienen!« Aber im Grunde glaubt er es selbst nicht.

Vor dem Neujahrsempfang auf Schloss Bellevue war Lothar Kwiring bedeutet worden, er würde Gelegenheit erhalten, mit dem Bundespräsidenten ein paar persönliche Worte zu wechseln. Um sich nicht zu verheddern und Zeit zu verschenken, hatte er sich die Worte zurechtgelegt. Trotzdem wären sie ihm fast entfallen, denn als er angehalten wurde, den Hausherren noch vor dessen charmanter Gattin zu begrüßen, fand er das doch ein bisschen komisch. Doch dann, während Johannes Rau seine Hand hielt, ihm in die Augen blickte, die Fotoapparate klickten, fielen die Worte ihm wieder ein. Er richtete die Grüße der Erwerbslosen aus, vor allem der aus den neuen Ländern. Übermittelte, dass sie nicht faul, sondern bereit zum Arbeiten seien. Dass sie ihren Lebensunterhalt mit der eigenen Arbeit bestreiten möchten und den Präsidenten bitten, sie in diesem Anliegen zu unterstützen.
Rau hielt noch immer seine Hand: Das wisse er, er hege keinen Zweifel. Dann schob er Kwiring behutsam weiter.

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