Spielarten der Rationalität
Auch Affen verfügen über ein Sprachzentrum, doch reden können sie nicht
Ihr Kehlkopf ist für eine differenzierte Lautbildung nicht geeignet. Unter anderem deshalb können Schimpansen nicht reden. Allerdings können sie in Gefangenschaft eine Art Gebärdensprache erlernen. Und selbst in freier Wildbahn benutzen sie Gesten und Laute, um mit anderen Schimpansen zu kommunizieren.
Bleibt die Frage, ob diese körperlichen Signale tatsächlich als Elemente einer Sprachtätigkeit oder als instinktive Reaktionen auf emotionale Befindlichkeiten anzusehen sind. Ein Biologenteam um Jared Taglialatela vom Yerkes Primatenforschungszentrum in Atlanta (USA) hat nun bei drei Schimpansen, die lautstark und gestenreich um Futter bettelten, tomografisch die Hirnaktivität gemessen. Was dabei herauskam, ist in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift »Current Biology« (DOI: 10.1016/j.cub.2008.01.049) nachzulesen: Bei allen drei Schimpansen feuerten die Neuronen besonders stark in einer Region, die dem Broca-Zentrum des menschlichen Gehirns entspricht. Diese Region, die 1861 von dem französischen Arzt Paul Broca entdeckt wurde, ist unter anderem für die Sprachmotorik und Lautbildung zuständig. Das heißt, wenn infolge einer Hirnschädigung das Broca-Zentrum ausfällt, kann der betreffende Mensch nicht mehr reden.
»Vieles deutet darauf hin«, sagt Taglialatela, »dass Schimpansen schon von Geburt an über ein funktionsfähiges Broca-Zentrum verfügen«. Aus biologischer Sicht macht eine solche Annahme durchaus Sinn: Bevor Mensch und Schimpanse in der Evolution getrennte Wege gingen, war im Gehirn des gemeinsamen Vorfahren bereits der Grundstein für den Spracherwerb gelegt.
In einer Frage allerdings hält Taglialatela sich bedeckt: in der Frage nämlich, ob die gemessene Aktivität im Broca-Zentrum von Schimpansen eher mit deren Lautäußerungen oder mit deren Gestik zusammenhängt. Sein Kollege Frans de Waal, der ebenfalls in Atlanta arbeitet, geht hier einen Schritt weiter. Denn in einer vergleichenden Untersuchung hat de Waal festgestellt, dass die Gesten von Schimpansen und Bonobos häufig unterschiedliche Funktionen erfüllen, während Lautäußerungen (und Gesichtsausdrücke) bei beiden Schimpansenarten mehr oder weniger das Gleiche bedeuten. Sonach könnte der Ursprung der menschlichen Sprache nicht in den Tierlauten, sondern in der Gestenkommunikation liegen.
Ähnlich wie hier, so fällt auf, verwenden Primatenforscher bei der Interpretation ihrer Ergebnisse gern den Konjunktiv. Dafür gibt es zweifellos Gründe. Der wichtigste: Ein Mensch kann sich in einen Affen nicht hineinversetzen und ist daher gezwungen, etwa die Sprachbegabung oder die Intelligenz von Schimpansen nach menschlichen Kriterien zu bewerten. Dabei schneiden unsere nächsten tierischen Verwandten nicht immer gut ab. Das wiederum erweckt bei vielen den Anschein, als seien die Fähigkeiten der Affen nur mindere Ausgaben der entsprechenden menschlichen Fähigkeiten.
Die Wirklichkeit ist jedoch komplizierter. Ein Beispiel: Wenn in einer Gruppe von Tonkean-Makaken nur wenige Individuen ein Futterversteck kennen, finden es dennoch alle gemeinsam. Welchen »Trick« die auf der Insel Celebes (Indonesien) beheimateten Tieraffen hierbei anwenden, hat der französische Anthropologe Bernard Thierry herausgefunden. Tonkean-Makaken stützen sich nicht auf das Wissen Einzelner, sondern verrechnen gleichsam die Reaktionen aller Tiere, um daraus ihre gemeinsame Marschrichtung zu ermitteln. Thierry beschreibt jene Fähigkeit treffend als »verteilte Intelligenz«, welche für die Problemlösung zwar nicht optimal sei, aber angemessen, um den Tieren das Überleben zu erleichtern. Man könnte auch sagen: Unter speziellen Umweltbedingungen haben Makaken eine eigene Art von Rationalität entwickelt, die zugleich den Zusammenhalt der Gruppe fördert. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die Evolution sich niemals nur einer Strategie bedient, um die belebte Natur zu organisieren.
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