Werbung

Punk aus der DDR

Leben und Legenden des »Otze« Ehrlich

  • Dirk Teschner
  • Lesedauer: 4 Min.

Nun ist es also da, das Buch über den Punkrockstar der DDR: Dieter »Otze« Ehrlich. Otze gründete 1979 in Stotternheim bei Erfurt mit seinem Bruder Klaus die Punkband Schleim-Keim. Um Otze ranken sich nicht erst seit seinem Tod im Jahr 2005 etliche Legenden. Die Buchherausgeber Anne Hahn und Frank Willmann griffen diese Legenden auf. Sechzehn männliche Zeitzeugen erzählen von ihren Erlebnissen mit Otze – und von eigenen Heldentaten.

Da werden Bierfässer aus Kneipen gerollt, verfeindete Armeen mit blanken Fäusten besiegt und komplette Drogenlabors durchgetestet. Dabei kann es schon mal passieren, dass es zu vollkommen verschiedenen Erinnerungen an dieselben Geschehnisse kommt. Das ist oft amüsant, manchmal aber auch ärgerlich. Zum Beispiel, was die Geschichte über die erste Vinyl-Erscheinung mit einer DDR-Punkband betrifft, oder vielmehr: den Honorarabholbesuch bei Sascha Anderson. Auf dessen Betreiben erschien 1983 auf dem Westberliner Label Aggressive Rockproduktionen die Platte »eNDe – DDR von unten« mit Schleim-Keim (auf der Platte als Sau-Kerle) und der Dresdner Künstlerband Zwitschermaschine. Den beteiligten Musikern waren von Anderson Belegexemplare und DM versprochen worden. Nach Erscheinen der Platte kamen allerdings weder Geld noch Vinyl nach Stotternheim, sondern stattdessen Mitarbeiter der Stasi. Otze reiste dann mit Verstärkung in Berlin bei Anderson an, um sein Lohn abzuholen.

So weit sind sich alle einig. Doch der Besuch spielte sich dann bei den anwesenden Freunden komplett anders ab. Bei dem einen wurde Anderson an einen Schaukelstuhl gefesselt, bei einem anderen war gar niemand zu Hause, aber bei beiden wurde Geld aus einer Handtasche mitgenommen. Otze zufolge kam es zu einem Disput mit Anderson, worauf dieser das Geld rausrückte.

Auch mit Daten habe so einige ihre Probleme. Gerne wird zurückdatiert. Da wird von einem Konzert mit Schleim-Keim berichtet, weit vor dem tatsächlichen ersten Auftritt im Dezember 1981. Bands wollen mit Schleim-Keim zusammengespielt haben, an die sich niemand erinnern kann. Auch darüber, wie es 1999 zu den Ereignissen im Stotternheimer Hof kam, in deren Verlauf Otze seinen Vater erschlug, gibt es allerlei verschiedene Versionen.

Spannend ist das Buch vor allem dort, wo es über Otze hinausgeht und Einzelne vom Leben der Punks in den 80ern berichten – und davon, was dem vorausgegangen war. Wie bei Walther Schilling, dem Vater der »Offenen Arbeit«. Schilling, Jahrgang 1930, prägte wie kein anderer die politische Jugendarbeit für Unangepasste in den 70er und 80er Jahren. Ausgehend von der 68er Revolte »kümmerte« er sich ab 1969 um langhaarige »Kunden«. Legendär die großen »June«-Veranstaltungen in Rudolstadt 1978/79 und 1986 – da dann schon mit einer großen Anzahl von Punks und Skinheads. Walther Schilling fand vor allem in Thüringen Mitstreiter, die dann Anfang der 80er erste Orte für Punkkonzerte zur Verfügung stellten. Die Kirchenleitung in Erfurt unterstützte diese Arbeit. Dort haben sich Theologen wie Probst Heini Falcke für eine offene Gesellschaft, für einen besseren Sozialismus eingesetzt. Die »Offene Arbeit« breitete sich in der ganzen DDR aus und war bis zum Herbst 1989 organisatorischer und politischer Weggefährte der Punkbewegung.

Im zweiten Teil des Buches skizziert Anne Hahn Otzes Leben. Dabei legt sie Stasi-Akten neben Aussagen von engen Vertrauten. Und sie versucht getreu des Schleim-Keim-Liedes »Spione im Café« etwas Licht ins Dunkel des IKMO »Richard« zu bringen, der Otze auch war. 1982/83 traf er sich regelmäßig mit Mitarbeitern der Abteilung K1 und bekam dafür etwas Trinkgeld. Die Akten bergen keine Überraschungen. Otze gab als »Richard« nur Mündliches zu Bericht. Die K1 war offiziell eine Abteilung der Kriminalpolizei und allen, die sich mit ihr trafen, wurde dies so bescheinigt. Erst seit 1990 ist bekannt, dass sie dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war.

Otze selbst ist am Ende in zwei Gesprächen präsent, in denen sich seine Kraft, aber auch sein Wahnsinn, offenbaren. Zwei Autoren unternehmen eine zusammenfassende Skizzierung der Person Otze. Verstreute »Punkanekdoten«, aufgeschrieben von Montezanna Sauerbier, ergänzen das Buch.

Anne Hahn, Frank Willmann: Satan, kannst Du mir noch mal verzeihen. Otze Ehrlich, Schleim-Keim und der ganze Rest. Ventil Verlag, 176 S., brosch., 11,90 EUR.

Lesungen: 4.4. Erfurt (Kunsthaus), 5.4. Weimar (Gasthaus Zum Falken), 6.4. Jena (Café Wagner)

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.