Was Menschen Menschen antaten

Ein anderes Kapitel deutsch-polnischer Versöhnung: Nur wenige brechen bisher das Tabu

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 4 Min.
Es ist dies der dritte publizistische Ansatz, ein Tabu zu brechen und das von Polen an unschuldigen Deutschen nach 1945 begangene Unrecht in das Bewusstsein der polnischen Öffentlichkeit zu rücken.

Bereits 2001 versuchten es Piotr Pytlakowski in »Polityka« und Jedrzej Morawiecki in »Tygodnik Powszechny«. Ein Echo fanden sie nur bei jungen polnischen Historikern, allen voran Witold Stankowski, Autor eines 2002 in Bydgoszcz herausgegeben Buches über »Lager und andere Verwahrungsorte für deutsche Zivilisten in Polen 1945 – 1950« (»Obozy i inne miej-sca odosobnienia dla niemieckiej ludnosci cywilnej 1945-1950«). Mit dieser Arbeit erlangte Stankowski 2004 seine Habilitation an der Universität Gdansk.

In dem gemeinsam mit Hannes Hofbauer verfassten Buch »Schlesien – ein Kernland im Schatten von Wien, Berlin und Warschau« (Promedia Wien, 2001) behandelte auch der Autor dieses Beitrags kurz das Schicksal der deutschen Zivilbevölkerung in den Lagern Oberschlesiens.

Was damals an Schrecklichem und Verbrecherischem durch polnische Hand in Kujawy (Kujawien) geschah, schilderten jüngst in der Beilage der »Gazeta Wyborcza« die Autoren Piotr Gluchowski und Marcin Kowalski. Sie lassen sich bei der Darstellung der Erlebnisse deutscher Frauen und Kinder von dem heute 72-jährigen Dr. Gustav Bekker begleiten, einem in Elsterwerda lebenden Arzt, der 2007 in Bydgoszcz gemeinsam mit Prof. Stankowski das Buch »Gemeinsames oder geteiltes Gedächtnis« (»Wspolna czy podzielona pamiec«) herausgegeben hat.

Beschimpfungen, Erniedrigungen, Schläge, Vergewaltigungen, nicht selten glatter Mord – wenige Worte kennzeichnen das Los von Menschen, die als Unterzeichner der vom Hitlerregime in den »angeschlossenen Gebieten« verordneten »Volksliste« zu den »Volksdeutschen« zählten oder nur deutsch klingende Namen trugen. Seit friderizianischen Zeiten siedelten in diesen Gebieten Menschen aus allen deutschen Landen, die über Jahrhunderte mit den Polen eine gemischte Bevölkerung bildeten. Nach Ende der Kriegshandlungen 1945 kam auf deren Nachkommen ein schweres Schicksal zu. Prof. Stankowski dokumentiert 1035 Lager, in denen sie zusammengefasst wurden. Darunter gab es »Zentrale Lager« wie in Potulice (Pommern), Jaworzno (Schlesien) und Krzesimow (Lubliner Gegend), andere galten als »mittlere« oder »kleine«. Nach Aussagen von Oberst Dagobert Jerzy Lancut, Chef der Abteilung Gefängnisse im Sicherheitsamt UB, wurden Ende 1945 über 40 000 Deutsche und »Volksdeutsche« in diesen Lagern festgehalten. Andere Quellen geben viel größere Zahlen an. Am härtesten traf es die Insassen der »kleinen« Lager, die der Willkür örtlicher Milizen ausgesetzt waren. Anders als etwa der »Kommandant« des Lagers in Swietochlowice, Salomon Morel, dessen ganze Familie dem Holocaust zum Opfer gefallen war, können solche Milizen wie die Pawlaks in Aleksandrow nicht aus Motiven persönlicher Rache gehandelt haben. Vielfach handelte es sich bei den Miliz-Angehörigen um vorbestrafte Kriminelle und Banditen. Der Wojewode in Bydgoszcz charakterisierte solche »Vertreter der neuen Macht« 1945 als »bildungsmäßig und moralisch untragbar«. Ein Kreisfunktionär schrieb zwei Jahre später von »unverantwortlichen Säufern, jenseits von jeglichem Ehrgefühl«. Auch das ist ein Stück Wahrheit der ersten Nachkriegsjahre.

Wie die beiden Autoren der »Gazeta Wyborcza« schreiben, war von der polnischen Bevölkerung kein Mitleid für die gefangenen und zur Arbeit gezwungenen Deutschen zu erwarten. Man hätte sich ja verdächtig gemacht, selbst ein »Volksdeutscher« gewesen zu sein. Auch die katholische Kirche rührte keinen Finger. Der Spruch »Ein guter Deutscher ist ein solcher, der zwei Meter tief in der Erde liegt« war damals gar nicht so selten.

Prof. Stankowski stellt das Geschehen in einen konkreten Zusammenhang: Wenn man von den über 1000 Lagern für Deutsche spreche, in denen die Sterberate (durch Typhus, Hunger, Altersschwäche) etwa 12 Prozent betrug, dürfe man die über 5800 Lager und Ghettos während der Okkupationszeit in Polen nicht vergessen. Millionen Menschen, die darin ermordet und zu Tode geschunden wurden, erlebten das Jahr 1945 nicht mehr. Dazu drängen sich die Worte Zofia Nalkowskas auf. Die polnische Schriftstellerin schrieb nach der Besichtigung einer Fabrik in Gdansk, in der aus menschlichen Leichen Seife gekocht wurde: »Solches Schicksal haben Menschen Menschen angetan.« Das gilt auch – im entsprechenden Verhältnis – für die an unschuldigen Deutschen begangenen Verbrechen. Die schuldig waren oder sich schuldig fühlten – Gestapo-Verbrecher, NSDAP-Funktionäre und andere Peiniger der polnischen Bevölkerung – waren längst vor der anrückenden Roten Armee geflohen.

Prof. Stankowski hörte indes nach der Veröffentlichung seines Buches sogar von einem Historiker die Auffassung, dass er dieses Thema unnötig aufgerollt habe. Es reize zu sehr und schade dem Mythos über die polnische Nation. »So verdrängt man diese Nachkriegsperiode«, bedauerte Stankowski gegenüber ND. Zu hoffen bleibe, dass sich die jüngere Generation irgendwann diesem Thema öffnet, »denn es lässt sich nicht völlig aus der Geschichte streichen«.

Dr. Gustav Bekker, der die Schrecken der Nachkriegszeit 1945 als Kind erlebte, gehört seit Jahren zu den aktivsten Verfechtern einer deutsch-polnischen Versöhnung. Der Arzt aus Elsterwerda wird in Aleksandrow gemeinsam mit dem dortigen Bürgermeister ein Mahnmal enthüllen – für die »unschuldigen Deutschen, die 1945 in Aleksandrow Kujawski und Umgebung gestorben sind«. Es wird das dritte Denkmal sein, das auf Bekkers Initiative errichtet wurde: das erste in Potulice, das zweite in Nieszawa. Auf dessen Sockel steht die Inschrift: »Polen und Deutschen, den unschuldigen Opfern des Krieges und der Gewalt in den Jahren 1939-1945«.

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