Fluch, Hoffnung

Birgit Scherzers Tanzstück »m.e.s.s.i.a.s« in Dortmund

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein alter Mann sitzt vor einer Röhrenhöhle, er legt die Nadel auf den Plattenspieler, Musikfetzen krächzen: Händels Messiah in Rudimenten wie von der Müllhalde; beim »Amen« schaltet er ungläubig das Gerät aus. So sei es? Am Stückende, wenn das Geschehen gleichsam im Anfangstableau erstarrt, fällt der Alte lachend auf seinem Schemel zurück. Zum Warten verurteilt, denn der Erlöser, der Weltenretter, ist auch nach zweitausend Jahren nicht in Sicht.
Georg Friedrich Händels berühmtes Oratorium »Messiah«, 1742 in seiner Wahlheimat London uraufgeführt, bildet die assoziativ zum Widerspruch reizende Projektionsfläche für Birgit Scherzers Tanzstück »m.e.s.s.i.a.s« nach einem Szenarium von Matthias Kaiser, das sich in seiner Bilderflut jedweder Euphorie und Erlösungsgewissheit verweigert. Das zweistündige Tanzstück erlebte nun seine europäische Erstaufführung durch das Ballett des Theaters Dortmund.
Das Ensemble hat endlich wieder einen eigenen großen Tanzabend und präsentiert sich engagiert und - besonders in den Solorollen - in bemerkenswerter Darstellungskraft. Gleichermaßen erfreulich, dass die Aufführung live musiziert wird. Chordirektor Granville Walker leitet das Orpheus-Ensemble, den Opernchor und ein Solistenquartett, aus dem der satte Bass von Thomas Mehnert herausragt.
Händels Oratorium speist seine musikalische Kraft aus Rezitativen, Arien, Chören und kammermusikalischen Passagen, die keinem fest geschriebenen Ablauf folgen. Prophezeiungen, Verrat und Verklärung markieren Stationen des Musikkonzepts; ein episches Opus zwischen Oper und Liturgie. Birgit Scherzers »m.e.s.s.i.a.s« sucht den Menschen hinter den biblischen Legenden, befragt individuelle Glückssuche nach Schuld und Verrat, Fluch und Hoffnung. Der profilierten Choreographin, ausgebildet an der Palucca Schule, bis 1989 Tänzerin und Choreographin an der Komischen Oper Berlin, dann bis 1999 innovative Chefchoreographin am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken, geht es nie um eine pantomimische Nacherzählung, sondern immer um eine tänzerische Umsetzung, die abstrahiert. Einer beredten Zeichenhaftigkeit folgt auch die gelungene Ausstattung. Im Mittelpunkt stehen Ahasver, der »Ewige Jude«, und Reb Jeshua, der gekreuzigte »Menschensohn«; der eine, der durch die Schuld am anderen zum ewigen Leben verdammt ist. Ein auf mehreren Zeitebenen agierender so genannter Sakristan verkörpert die zerstörerische menschliche Kraft. Ein menschlicher Teufel im Messgewand.
Bereits in ihrem 1991 in Saarbrücken uraufgeführten und 1994 an der Komischen Oper Berlin gefeierten dreiteiligen Totentanz »Requiem!!« nach Mozarts Torso gebliebener Komposition KV 626 fand Birgit Scherzer eindringliche Bilder für Massenmord und Vernichtung. Im »m.e.s.s.i.a.s.« rückt die Choreographin diese Frage von Täter- und Mittäterschaft erneut ins Zentrum tänzerischen Geschehens. In großen Gruppenszenen mutiert der Sakristan allein durch Veränderung von Arrangement und Bewegungsduktus schlaglichthaft zum Dr. Mengele an der Rampe. Als bewussten choreographischen Kontrapunkt zur musikalischen Heilsverkündung gestaltet sich die Stigmatisierung einer Menschengruppe mit gelbem Stern und deren Separierung. Einzig Elias, der Prophet einer vorchristlichen Ära, widersteht dem Untergang. Später sucht Ahasver in den Reihen des Publikums nach dem wahren Herrscher, ungläubig fixiert er die vor ihm sitzenden Menschen und streichelt einzelne Gesichter - ein eindringliche Szene im Zuschauerraum zum Ende des 2. Teils.
Philip Woodman als Ahasver stellt seine tänzerische und darstellerische Vitalität und Sensibilität voll in den Dienst der Rollengestaltung. Herausragend tanzen auch Dino Baksa als wandlungsfähiger, hochkonzentrierter Sakristan, José Martinez als Jeshua sowie Adriana Naldolni als Magdalena und Meritxell Aumedes Molinero als Maria.
Die Gruppe tanzt stets unisono; entindividualisiert wird sie als Sandfresser, Juden, Kranke, Hofgesellschaft oder Blinde bezeichnet. Zur berühmten Bass-Arie zum Schall der Posaune, die die Wiederkehr der Toten ankündigen wird, walzt eine Spaßgesellschaft wie unter Drogen trancehaft blind und glücklich hinter einem Animator her. Zur abschließenden »Amen«-Fuge vergräbt Maria ihre Krone im Sand, Ahasver schickt einen Menschensohn in die Welt. Dem letzen »Amen« geht das Lachen des Elias voran, das jedem tröstenden Ende Hohn spricht.
Dieser »m.e.s.s.i.a.s« bleibt dennoch bruchstückhaft und ist konzeptionell überfrachtet. Das Geschehen zerfasertdurch eine Vielzahl paralleler Bühnenaktionen. Die bildgewaltige tänzerische Sprengkraft und Stringenz ihres »Requiem!!« erreicht »m.e.s.s.i.a.s.« leider nicht.

Weiter: heute, 24. und 28. 2.

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