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Frau mit zwei Gesichtern
Michael G. Fritz berührt Verdrängtes aus DDR-Zeiten
Mich vergisst man nicht ungestraft, hatte ihm Tante Laura vor langer Zeit eingeprägt. Doch er hat sie vergessen, willentlich. Und nun wird er hart dafür gestraft.
Der neue Roman von Michael G. Fritz (zuletzt »Die Rivalen, 2007) beginnt als eine leichte, harmlose Sommergeschichte. Martin Henny macht mit seiner Familie Urlaub an der Ostsee, so wie jedes Jahr. Man geht fischen und genießt die Tage. Ein tändelndes Feriengefühl auf der Insel.
Plötzlich taucht in der Idylle eine Frau auf, die alles verändert. Es ist Martins Tante Laura, die viel jüngere Schwester seiner Mutter, längst aus dem Leben ihrer Familie verschwunden, verschollen geglaubt irgendwo in Südamerika. Sie nimmt Martins Frau Katja und die beiden halbwüchsigen Söhne sofort für sich ein. Denn sie ist anders, umweht vom Hauch des Ungewöhnlichen. Noch immer eine attraktive Frau.
Der Roman führt den Leser anfangs gekonnt hinters Licht. So unspektakulär er im Teil I beginnt, so dramatisch steigert sich die Geschichte im Teil II. Man muss sich auf das langsame Erzählen voller Belanglosigkeiten erst einlassen, um bereit zu sein für den Paukenschlag, mit dem sich der Übergang abrupt vollzieht: ein schwerer Verkehrsunfall mit Lauras Auto, bei dem sie selbst stirbt und Katja lebensgefährlich verletzt wird.
Der Roman hat gewissermaßen eine Oberflächen- und eine Tiefenstruktur. Im spannenden Fortgang entwirrt sich Lauras Schicksal, in das der Leser erst nach und nach eingeweiht wird. Michael G. Fritz, ein intelligenter Erzähler, fällt nicht mit der Tür ins Haus. Sein Ich-Erzähler Martin war einst, als junger Bursche, selbst von Laura fasziniert, wurde von ihr ins Leben der Erwachsenen initiiert, wollte dann aber nichts mehr von ihr wissen. Sie verschwindet, und er löscht sie aus seinem Dasein. Plötzlich aber explodiert das Nichtwiedergutzumachende mitten ins friedliche Leben der Gegenwart hinein.
Die eigentliche und sehr eigenwillige Hintergrundgeschichte erzählt Martin seiner Frau erst, als diese im Koma liegt, keiner wissen kann, ob sie ihn wahrnimmt, ob sie versteht. Das ist auch nicht das Entscheidende. Vielmehr kommt es darauf auf, dass Martin begreift, was da eigentlich gelaufen ist. Heute weiß er, Laura besaß verschiedene Gesichter, die sie nach Belieben abrufen konnte.
Ihr früheres Leben spielte sich rund um die Boxhagener Straße in Berlin ab, und allmählich tritt aus der Handlung ein Stück originale DDR-Geschichte hervor. Nicht nur der Rock 'n' Roll spielt darin eine Hauptrolle, sondern auch ein Journalist, der einen zum Gängigen umgekehrten Weg nimmt und in den 70er Jahren von West nach Ost übersiedelt, wobei natürlich die Stasi auf den Plan tritt. Herrlich skurrile Storys kommen vor wie die von den Umkleidekabinen im Kaufhaus, hinter deren Spiegelwänden verdiente Genossen auf ihre Belohnung warten ...
Michael G. Fritz ist auch ein amüsanter Erzähler, ein wenig kriminalistisch geht es bei ihm allemal zu. Und Tote gibt es mehr als einen. Am Klinikbett seiner Frau sitzend, muss der Ich-Erzähler, wie um ihr Leben zu retten, sich endlich dem Unerledigten der Vergangenheit stellen. Vergessen und Verdrängen ist doch nur Selbstbetrug, das sollte ein kluger Mann wie er längst wissen. Und diesmal ist die Inszenierung seiner Tante Laura so nachdrücklich und unwiderruflich, dass er sie tatsächlich nie wieder vergessen wird.
Michael G. Fritz: Tante Laura, Roman, Mitteldeutscher Verlag. 192 S., geb., 16 EUR.
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