Am Abgrund
Vor 100 Jahren wurde Cesare Pavese geboren
Zu Leone Ginzburg kam er jeden Abend. Er hängte Schal und Mantel an den Kleiderständer und setzte sich an den Tisch. Er war, erzählt Natalia Ginzburg in ihrem Memoirenbuch »Mein Familienalbum«, in jener Zeit sehr melancholisch. Die einjährige Verbannung 1935 wegen atifaschistischer Gesinnung in einem Fischerdorf Kalabriens, lag hinter ihm, er war frei, aber die Geliebte, eine Kommunistin, hatte soeben einen anderen Mann geheiratet. Er erfuhr es am Tag seiner Rückkehr nach Turin. Nichts traf ihn so sehr wie diese Nachricht. Auch Ginzburg, der Freund (der später, 1944, im Gefängnis ermordet wurde), war nach seiner Haft wieder in der Stadt. Manchmal schwieg Pavese den ganzen Abend, saß nur da, still und in sich gekehrt, griff gegen Mitternacht Schal und Mantel und ging rasch fort, zwischen den Zähnen die erloschene Pfeife.
Ein stiller, kontaktscheuer Mann, ein Einzelgänger mit der Sehnsucht nach Liebe, die sich nie erfüllte. Ins Tagebuch schrieb er 1946: »Jeden Abend, nach dem Büro, nach der Kneipe, wenn die Leute, in deren Gesellschaft man war, gegangen sind, überkommt mich wieder die wilde Freude, die Erfrischung, allein zu sein. Es ist das einzige wirklich Gute an jedem Tag.« Da arbeitete Pavese bereits seit langem in einem Verlag, 1933 gegründet von Giulio Einaudi, der in Turin antifaschistische Intellektuelle und Künstler um sich scharte, auch Leone Ginzburg und Carlo Levi. Pavese hatte sich lange gesträubt, da mitzumachen, er verdiente sein Geld in einem Gymnasium, es war nicht viel, was er bekam, aber das Wenige reichte ihm, wenn er nur seine Suppe und den Tabak bezahlen konnte. Aber dann ließ er sich doch überreden und wurde der engagierte, pünktlichste und penibelste Angestellte, den Einaudi hatte. Und blieb es bis zu seinem Tod.
Der kleine Verlag in Turin entwickelte sich zur Heimat der antifaschistischen Literatur Italiens, und aus Cesare Pavese, dem Lektor, wurde einer der prägenden Schriftsteller der Nachkriegsjahre, Poet, Erzähler und Essayist. Als Lyriker hat er begonnen, früh schon. Später, als er Anglistik studierte, entdeckte er die großen Prosaisten Amerikas, die sein eigenes Schreiben stark beeinflussten. Sie waren nicht so gesellschaftsfern wie die meisten Autoren Italiens. Er übersetzte Melvilles »Moby Dick«. Er tat es aus reinem Vergnügen. Es folgten Sherwood Anderson, Faulkner und Sinclair Lewis, dazu kamen große essayistische Studien über Defoe, Dreiser, O. Henry, Gertrude Stein, Richard Wright, Dos Passos. Hier, bei Engländern und Amerikanern, fand er eine »abwechslungsreiche und bunte Wirklichkeit«, wie er sie bei Sinclair Lewis bewunderte.
Cesare Pavese, der seit 1941 in rascher Folge Erzählungen und kurze Romane veröffentlichte (und 1943 der KPI beitrat), »Unter Bauern«, »Der schöne Sommer«, »Die Verbannung«, »Der Genosse«, »Das Haus auf der Höhe«, holte seine Stoffe aus der Umgebung Turins. Er stellte seine Figuren mitten in die von Mussolinis Faschismus geprägte Gegenwart. Und er ließ sie reden, wie man sich in der Hügellandschaft der Langhe gab: unverstellt, lakonisch und in der Mundart der Region. Er erzählte von Widerstand und Lethargie, von Einsamkeit, Elend und Verzweiflung. Er pflanzte seinen Geschichten immer wieder die eigene Skepsis ein, ein Gefühl der Vergeblichkeit, das selbst der Auflehnung gegen die Verhältnisse innewohnt.
Noch in seinem Roman »Die einsamen Frauen« von 1949, jetzt bei Claassen in einer Neuübersetzung erschienen, entwirft Pavese eine Szenerie, die das Glück des Handelns genauso kennt wie die Apathie, die Langeweile der Aristokraten wie den Stolz der einfachen Leute, tiefe Lebensbejahung wie den Lebensüberdruss. Da ist auf der einen Seite Clelia, eine selbstständige, zupackende Frau aus der Modebranche, die nach siebzehnjähriger Abwesenheit wieder nach Turin kommt. Und auf der anderen Seite das Mädchen Rosetta, Tochter gutsituierter Eltern, die, auf der Flucht vor dieser leeren bourgeoisen Welt, am Anfang des Buches einen Selbstmordversuch unternimmt, der ihr am Ende des Romans gelingt.
Die Neuausgabe der »Einsamen Frauen«, die Maja Pflug von den verwässerten Formulierungen der älteren Übersetzung befreit hat und die nun die kraftvolle Sprache Paveses leuchten lässt, ergänzt den Text mit einem Brief, in dem der jüngere Italo Calvino dem Autor schreibt, er habe in dem Buch viel über die Einsamkeit erfahren, aber auch »etwas Neues über den Sinn der Arbeit …, darüber, dass die Beziehungen zwischen Menschen, die sich nicht auf Arbeit gründen, etwas Monströses bekommen«.
Tatsächlich hat Pavese hier noch einmal den Zwiespalt seines Lebens dokumentiert, diesen Widerspruch zwischen der Tatkraft und dem Selbstbewusstsein einer Clelia und der Todessehnsucht der Rosetta. In der Gemeinschaft, unter Freunden und den Mitarbeitern des Einaudi-Verlages, hat er die seelische Balance mühsam erhalten können, doch im Grunde blieb er, was er immer gewesen ist: ein scheues Einzelwesen, ein schwer zugänglicher Mann, dem, zu seinem großen Kummer, auch nicht eine Liebesbeziehung gelang.
Deutlicher noch, schockierender auch steht dies alles im Tagebuch »Das Handwerk des Lebens«, einem Bekenntniswerk, das 1935 einsetzt und 1950, kurz vor dem Freitod Paveses, endet. Bereits am 10. April 1936 wird hier vom »gegenwärtigen Selbstmörderleben« gesprochen. Er sei verdammt, heißt es da, bei jedem Hindernis oder Schmerz an Selbstmord zu denken. »Das ist es, was mich entsetzt«, schrieb Pavese, »mein Prinzip ist der Selbstmord, nie vollzogen, den ich nie vollziehen werde, der aber meiner Empfindsamkeit schmeichelt.« Doch dann, am 9. September 1950, nachdem er das Thema immer wieder erörtert hatte, widerrief er den Satz von 1936, verließ die Wohnung seiner verheirateten Schwester (ein eigenes Zuhause hatte er nie) und machte es wie die Rosetta seines Romans. Er ging in ein Hotel seiner Stadt Turin, nahm eine tödliche Dosis Schlaftabletten und legte sich angezogen aufs Bett. Der letzte Satz im Tagebuch, notiert schon am 18. August, lautet: »Ich werde nicht mehr schreiben.«
Vom Selbstmord hatte Pavese schon gesprochen, berichtet Natalia Ginzburg, als er bei Leone saß und Kirschen aß. Aber niemand glaubte ihm. Er hatte Angst vor dem Krieg. Das war 1940, als Hitlers Armeen in Frankreich standen. Er hatte noch Angst, als schon Frieden war und alle in seiner Nähe mit der Angst vor dem nächsten Krieg lebten. »Und seine Angst war größer als die unsere: denn für ihn war die Angst der Abgrund dessen, was sich nicht voraussehen und nicht erkennen läßt, etwas Gräßliches für seinen luziden Geist: dunkle, aufgewühlte und giftige Wasser an den nackten Ufern seines Lebens.«
Cesare Pavese: Die einsamen Frauen. Mit einem Nachwort von Maike Albath und zwei Briefen von Italo Calvino und Cesare Pavese. 205 S., geb., 19,90 EUR.
Das Handwerk des Lebens. Tagebuch 1935–1950. 461 S., geb., 20 EUR. Beide, wie auch weitere Titel Paveses, im Claassen Verlag.
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