»Der Staat macht mir Angst«

Größte Demonstration gegen »Überwachungswahn« seit 20 Jahren

Zehntausende haben am Sonnabend in Berlin für mehr Datenschutz demonstriert. Die hohe Teilnehmerzahl zeigt, dass die Sensibilität für den Schutz der Privatsphäre zugenommen hat.
Das weißhaarige Ehepaar aus Berlin-Hohenschönhausen ist sicher eine große Ausnahme auf der Demonstration gegen Überwachung. Es hat keinen Computer zu Hause. Die beiden Rentner können wahrscheinlich nicht erklären, was genau ein Trojaner ist oder wie eine Firewall funktioniert. Aber sie haben eines verstanden: »Überwachung betrifft uns alle«, wie der Mann sagt. Seine Frau bringt es auf den Punkt: »Es geht um einen Staat, in dem sich die Menschen frei bewegen können.«

Ihre Altersgenossen und selbst die Generation ihrer Kinder haben das entweder noch nicht begriffen oder es treibt sie noch nicht auf die Straße. Denn wer am Sonnabend in der Hauptstadt gegen das Ausspähen und die Kontrolle der Bürger protestiert, ist in der Regel nicht älter als 35 Jahre alt. Anders, als es die oft gehörte Klage über das mangelnde Datenschutzbewusstsein der Jugendlichen erwarten ließe, sind von der Generation Internet viele gekommen. Insgesamt sind es mehrere Zehntausend, die bei strahlendem Sonnenschein vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor ziehen. Damit ist die Demonstration nicht nur die größte für den Schutz der Privatsphäre seit 20 Jahren, sondern spielt auch langsam in der Liga der großen Antikriegs- oder Sozialabbaudemos der letzten zehn Jahre mit.

Der Demonstrationszug durch die östliche Innenstadt glich trotz des ernsten Themas eher einer lebensfrohen Parade als einem Trauermarsch. Die »geistige Monokultur«, die den Sicherheitsgesetzen zugrunde liegt, wie es ein Redner schön formulierte, scheint auch die Kreativität anzuregen. Es ist fast so, als hielten die Demonstranten Politikern wie Wolfgang Schäuble ihren freien Geist entgegen. Die Aids hilfe ist mit einem geschmückten Wagen dabei, ebenso die Hacker vom Chaos Computer Club und die Hedonistische Internationale, ein Netzwerk gesellschaftskritischer Künstler. Die Menschen tanzen, einige haben selbst gebastelte Kameras auf dem Kopf, andere tragen riesige gelbe Kondomhüte aus Pappmaché. Sie sollen in Anlehnung an die Safer Sex-Kampagne sagen: Schützt eure Privatsphäre – safer privacy.

Initiiert wurde die bunte Demonstration vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, in dem sich Bürgerrechtler, Datenschützer und Internet-Nutzer zusammengefunden haben, um die geplante Vollprotokollierung der Telekommunikation zu verhindern. Mehr als 100 Organisationen haben den Aufruf »Freiheit statt Angst« unterstützt. Bürgerrechtsorganisationen, Gewerkschaften und alle Oppositionsparteien im Bundestag bis hin zu linken Gruppen, Berufsverbänden, Friedensinitiativen und Flüchtlingsorganisationen. Denn längst richtet sich der Protest gegen mehr als die Speicherung aller Kommunikationsdaten für sechs Monate. Auf Transparenten und Schildern und in den Reden geht es um die elektronische Gesundheitskarte, die Totalkontrolle der Hartz-IV-Empfänger, Überwachung am Arbeitsplatz, die Steuer-Identifikationsnummer, Anti-Terrordatei und BKA-Gesetz. »Der Staat macht mir Angst«, sagt eine Frau aus dem Stadtteil Friedrichshain. »Er verhaftet Leute, ohne dass sie etwas getan haben.«

Es gibt kaum ein anderes Thema, bei dem Linksradikale bis Markt radikale gemeinsam auf die Straße gehen. Ein paar Antifas pöbeln von weitem ein bisschen in Richtung FDP. Die Grünen recyceln eine Demo-Strategie der Trotzkisten und bringen mehr Schilder mit als sie selbst tragen können. Am Rand steht der Name der Partei. Immerhin können die Leute selbst Sprüche draufschreiben. Und so ist dann auch auf einem zu lesen: »Wir sind nur gegen Überwachung, wenn wir nicht mitregieren.«

Der Spruch ist typisch für das Verhältnis zu den beteiligten Parteien, wie es von vielen hier gepflegt wird: offen, aber auch illusionslos und fordernd. »Schön, dass ihr mitmacht«, ruft etwa Monty Catsin von der Hedonistischen Internationale bei der Abschlusskundgebung in ihre Richtung. »Ihr müsst im Bundesrat die geplante Grundgesetzänderung für den Einsatz der Bundeswehr im Innern verhindern. Und wenn ihr das nicht tut, habt ihr in dieser Demo nichts zu suchen.«

Laut Umfragen halten nur noch 55 Prozent der Bundesbürger Wolfgang Schäuble für kompetent. Dass es noch weniger werden sollen, daran lassen die Demonstranten am Sonnabend keinen Zweifel. »Wir werden die Datenbanken löschen und uns irgendwann die Freiheit nehmen, die uns als Menschen zusteht«, prophezeit Catsin auf der Bühne – das meint er auch als Warnung an den Bundestag nebenan.
»Der Staat macht mir Angst«
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