Die irre Angst vor Afghanistan verhindert jeden Aufbruch
Biden will mehr Dialog mit den Verbündeten. Deutschland könnte dazu beitragen, wenn es mit eigener Unlogik aufräumt.
Dass der Westen in einem Krieg gegen den internationalen Terrorismus steht, hat man seit den »9/11-Anschlägen« schon zu oft gehört. Die »freie Welt« fiel mit diesem Hinweis über Afghanistan und Irak her – und etablierte dort objektiv ein Programm zur Aufzucht von Terroristen. Mag der Westen anfangs noch als Befreier wahrgenommen worden sein, seit Jahren schon hat er sich in die Rolle von Besatzern hineingebombt. Und dabei nicht bemerkt, dass er an der völlig falschen Front kämpft. In Afghanistan gibt es weder die alten Taliban noch Osamas Banden, die sich Al Qaida nennen. Es sind Afghanen, die mit ihrem Aufstand, der von der Masse des Volkes ganz offensichtlich nicht abgelehnt wird, zwei Ziele verfolgen: die Besatzer zum Rückzug zu zwingen und die prowestliche Regierung in Kabul zu stürzen. Eines wollen sie ganz sicher nicht: als Terroristen-Wallfahrer Mord und Totschlag in die westliche Städte bringen. Auch die Reste von Al Qaida, so sie sich überhaupt noch in der Region verstecken, hätten weder logistisch noch führungsmäßig nur die geringste Chance, das zu steuern. Wer will, kann das in CIA-Dokumenten oder in Reden westlicher Militärs vor Ort nachlesen.
Man muss also dumm oder abgebrüht sein, wenn man noch immer behauptet, dass Deutschlands Freiheit am Hindukusch verteidigt werde. Das ahnt auch der deutsche Verteidigungsminister, der jüngst noch sagte, wir bekämpfen den Terrorismus in Afghanistan oder er kommt zu uns nach Deutschland. Nun drängt Jung, da die USA Nachdenken erkennen lassen, nach mehr ziviler Aufbauhilfe.
Präsident Karsai, der im August wiedergewählt werden will, riskiert nur selten eine große Lippe gen Westen. Doch auch er hofft, dass Obama klare Worte besser versteht als bisher geübte Speichelleckerei. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus könne nicht in Afghanistan ausgetragen werden, sagt der US-»Stadthalter« in Kabul. Und hat damit jenen Kreis der Toleranz überschritten, auf dessen Einhaltung auch die neue Administration in Washington pocht.
US-Politiker und Militärs werfen dem afghanischen Präsidenten plötzlich vor, dass der Drogenhandel grassiert, die Korruption endlos mächtig ist und Karsais Truppe – weil selbst korrupt – das alles nicht in den Griff bekomme. US-Außenministerin Hillary Clinton bezeichnet Afghanistan zwar nicht mehr als Schurken-, wohl aber als Drogenstaat. Was sicher stimmt, doch zunächst einmal auf die Kappe der »internationalen Gemeinschaft« geht. Karsai wehrt sich: »Ich hoffe, dass man, anstatt uns unter Druck zu setzen, sich mit uns zusammensetzt, damit wir gemeinsam das Problem der toten Zivilisten lösen können.« Er scheint nicht daran zu glauben, weshalb er sich vor seinem Münchner Auftritt keck auch nach neuen Verbündeten umschaute. Da sind ihm selbst die Russen willkommen. Wiederholt hat Karsai in den letzten Wochen die hohe Anzahl ziviler Opfer nach Angriffen von NATO- und US-Truppen beklagt. Nachrichten über Attacken auf Hochzeits- und Trauergemeinschaften fachen das Feuer für den afghanischen Widerstand an.
Und sie machen all jene heiß, vor denen man sich in den westlichen Ländern wirklich fürchten sollte. Sie leben hier im Westen, haben keinen Kontakt zu Osama bin Laden, akzeptieren Al Qaida höchstens als Idee. Der Islam ist bei vielen so aufgesetzt wie bei ihren Nachbarn der Katholizismus. Sie besuchen auch keine (dort längst nicht mehr existierenden) Ausbildungscamps am Hindukusch. Weshalb entsprechende Strafverschärfungen, wie sie gerade in Deutschland geschehen, absurd sind.
Aber sie schauen Fernsehen, wandern durchs Internet, telefonieren mit Verwandten – und wollen es nicht länger ertragen, dass der Westen Terror mit Islam und sie mit Menschen zweiter Klasse gleichsetzt, um daraus – egal ob in Afghanistan oder in Gaza – das Recht zum Töten abzuleiten. So entsteht wahrer Terrorismus – in unserer Mitte. Computer und Wohnungen ersetzen Camps und Drill. Erkläre einer, wie man dem militärisch beikommen will? Zumal am Hindukusch.
Wenn die USA nun wirklich gemeinsame Wege suchen, um gemeinsame Probleme zu lösen, dann ist es Pflicht der Bundesregierung, Obama bei der Erkenntnis zu helfen, dass Krieg Terror nicht abschaffen kann. Da reicht es nicht, froh zu sein, wenn Biden in München nicht explizit mehr Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan erwartet, die mehr US-Militärs zur Seite stehen sollen. Ideen für Exitstrategien sind gerade vom wichtigsten Verbündeten der USA, Deutschland, gefordert. Mag sein, dass ein sofortiger Rückzug westlicher Militärs unmöglich ist. Doch ein zeitlich klar definiertes Programm, das dies anstrebt, ist möglich. So wie eines für mehr Polizeiausbildung, für mehr Schulen und Krankenhäuser. Und vor allem muss man verhandeln: mit den neuen Taliban. Wie im Falle von Iran, nicht über Mittelsmänner.
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