Bunt, wild, roh, amüsant

»Simplicissimus« neu übersetzt

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Dreißigjährige Krieg hat das Schlachtfeld Deutschland so verheert, dass es von der allgemeinen europäischen Entwicklung für über hundert Jahre abgekoppelt war. Der »Simplicissimus« des Zeitgenossen und Kriegsteilnehmers Grimmelshausen ist 1669 erschienen und »verkaufte sich noch hundert Jahre lang besser als jedes andere bedeutende Buch«, schreibt Nicholas Boyle, Literaturhistoriker aus Cambridge. Im »Simplicissimus« hören wir »für viele Jahre zum letzten Mal die Stimme einer freien und wagemutigen Mittelschicht, die davon überzeugt ist, dass zwar unser letztliches Schicksal vielleicht nicht in unseren Händen liegt, aber auch nicht in denen eines anderen und dass es an uns liegt, daraus zu machen, was wir können.«

Die Literaturwissenschaft hat den im frühen Neuhochdeutsch verfassten Roman in diverse Schubläden gezwängt: Vom Bindeglied zwischen Parzival zu Wilhelm Meister bis zum Propheten des Dritten Reiches gehen die Versuche, dem ersten großen deutschen Roman Etiketten aufzunötigen.

Wer in seiner Schulzeit unter dem Zwang des Lehrplans den Blick für die Größe dieses Werkes nicht hatte gewinnen können, dem sollten die Sätze Thomas Manns helfen, der in seinem Vorwort zur schwedischen Übersetzung aus dem Jahre 1944 schrieb: »Es ist ein Literatur- und Lebens-Denkmal der seltensten Art, das in voller Frische fast drei Jahrhunderte überdauert hat und noch viele überdauern wird. Ein Erzählwerk unwillkürlichster Großartigkeit, bunt, wild roh, amüsant, verliebt und verlumpt, kochend von Leben, mit Tod und Teufel auf Du und Du, zerknirscht am Ende und gründlich müde in einer in Blut, Raub, Wollust sich vergeudenden Welt, aber unsterblich in der elenden Pracht seiner Sünden.«

Großen Anteil an dem wuchtigen Reiz des Romans hat natürlich seine uns heute nicht immer ganz einfach zu verstehende Sprache. Aber das verfälscht gewissermaßen den sprachlichen Rang des Textes, der natürlich seinerzeit in einer zeitgemäßen Sprache geschrieben wurde. Für den, der diese Sprachen beherrscht, könnten moderne englische und französische Übersetzungen des »Simplicissimus« sogar unmittelbarer wirken.

Die sprachliche Distanz zwischen dem 17. Jahrhundert und heute überwindet jetzt eine »Übersetzung« des Simplicissimus ins Deutsche auf eindrucksvolle Weise. Sie zieht den Schleier der Patina vor dem hellen Antlitz des Textes fort und ruft zur Neuentdeckung auf. Einer der angesehensten deutschen Übersetzer aus dem Englischen, Reinhard Kaiser, hat dem Simplicissimus damit wahrscheinlich den größten Gefallen in seiner von der schulischen Behandlung verschatteten Rezeptionsgeschichte getan: Wir haben einen der besten deutschen Romane wieder zur Verfügung.

Die deutsch-deutsche Übersetzung geht vom Originaltext aus, wie er in der vorzüglich kommentierten Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages auch als Taschenbuch erhältlich ist. Wer den Urtext und die Übersetzung parallel lesen mag, gewinnt noch einmal einen vertieften Eindruck in die Großartigkeit von Grimmelshausens Original und die Genialität seiner Übersetzung. Diesem Ereignis entspricht die Aufmachung: Zwei kostbare Bände der Anderen Bibliothek holen das Buch aus den philologischen Schubladen und bewahren es in einem schönen Schuber davor, wieder den Staub der Geschichte anzusetzen.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Aus der Sprache des 17. Jahrhunderts übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Reinhard Kaiser. Eichborn. Die Andere Bibliothek. Zwei Bände im Schuber, 764 S., 69 €.

Original: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. herausgegeben und kommentiert von Dieter Breuer. dtv. 1084 S., 18 €.

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