Gerhart Hauptmann zwischen 1933 und 1945

Peter Sprengels vorzügliches Buch über Leben auf »hoher Küste«

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Ganz Hiddensee, meldete der Medizinalrat Curt Friedel seinem berühmten Nachbarn voller Stolz, habe Anteil an dem Ereignis genommen. Vor Haus Seedorn, dem Sitz Gerhart Hauptmanns, wehten am 1. Mai 1933 zwei Fahnen, schwarz-weiß-rot die eine, mit dem Hakenkreuz die andere. Friedel, aus »innerster Überzeugung« Nationalsozialist, hatte den Auftrag des abwesenden Dichters, »heutig festgesetzte Flaggen« zu hissen, begeistert erfüllt.

Die Nachricht sprach sich schnell herum. Tage später schrieb Thomas Mann ins Tagebuch, er hasse »diese Attrappe, die ich verherrlichen half, u. die großartig ein Märtyrertum von sich weist, zu dem auch ich mich nicht geboren weiß, zu dem aber meine geistige Würde mich unweigerlich beruft«. Schärfer noch, dazu öffentlich äußerten sich Klaus Mann, der gerade im Begriff war, die intellektuelle Emigration um seine antifaschistische Zeitschrift »Die Sammlung« zu scharen, und Alfred Kerr, der den Freund und Dramatiker immer wieder gefeiert hatte und nun voller Verachtung erklärte: »Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln; sein Bild begraben im Staub.«

Die späten Jahre des Gerhart Hauptmann zwischen 1933 und 1945 sind noch immer der umstrittenste Teil seiner Biografie. Die ersten Autoren, die sich nach 1945 an biografische Arbeiten wagten, Kurt Lothar Tank und Erich Ebermayer, beide noch im Kreis des alten Dichters zu finden, mogelten sich eher verlegen und wortkarg um die brisanten Fragen herum. Differenzierte Kenntnis verdanken wir erst Eberhard Hilscher, der für die überarbeitete Neuauflage seiner großen Hauptmann-Darstellung (1996 als Aufbau-Taschenbuch) die schwer entzifferbaren Tagebücher jener Zeit durchsah und auswertete. Zehn Jahre danach publizierte Rüdiger Bernhardt im kleinen Projekte-Verlag eine Untersuchung (»… geschehen ist der Götter Ratschluss«), die das Thema erstmals separat behandelte und Hauptmanns Unentschiedenheit, sein Schwanken, seine Bekenntnisnot überzeugend vorführte. Ihr folgt jetzt im Propyläen-Verlag Peter Sprengels Buch »Der Dichter stand auf hoher Küste«, eine kluge, fesselnde Studie, die ihren Rang auch der bisher unerreichten Materialfülle verdankt.

Sprengel bringt beste Voraussetzungen mit. Er hat ein grundlegendes Buch über Werk, Wirkung und Epoche Hauptmanns verfasst (1984 bei C. H. Beck) und 1997 eins der wichtigsten Dokumente ediert: den Band mit den Tagebüchern der Jahre 1914 – 1918. Dieses Diarium, das den »ungeheuren Krieg« als »eiserne Notwendigkeit« feierte und den patriotischen Rausch in schwelgenden Eintragungen auslebte, lässt schon ahnen, was vielen später ein Rätsel war: wie der Dichter des sozialen Mitleids, der den preußischen Kronprinzen aus der Theaterloge trieb, der Nobelpreisträger, der in den zwanziger Jahren die Stimme Deutschlands war, sich 1933 mit den neuen Machthabern abfinden konnte.

»Die gestern gehaltene Rede des deutschen Reichskanzlers«, schrieb Hauptmann Mitte Mai 1933 ins Tagebuch, »wird man noch nach einigen hundert Jahren hören! Diese Rede müßte in ganz Deutschland angeschlagen werden.« Er hielt Hitler, dessen rhetorische Begabung er bewunderte, für das »größte politische Ereignis« seit Menschengedenken. 1940 nannte er ihn gar ein »Weltgenie«.

Gemeinsam mit Margarete, seiner Frau, hockte er stundenlang gebannt am Radio, um Hitlers Reden zu hören oder den Schauprozess um den Reichstagsbrand zu verfolgen. Seine patriotische Gesinnung, auf die er nichts kommen ließ und die ihn für die Nazis einnahm, schwappte auch im Krieg über, und wenn sich später auf dem Wiesenstein einer seiner Getreuen still aus der Abendrunde davonstahl, um heimlich BBC zu hören, reagierte er ungeduldig und ungehalten.

Ein Nazi ist Hauptmann trotzdem nicht gewesen, auch kein schlichter Opportunist. Er redete den Machthabern nicht zum Munde und plapperte ihnen nicht nach. Weder der Handschlag Hitlers an seinem 71. Geburtstag noch ein Abendessen beim Ehepaar Goebbels haben ihn ins Lager der Nazis locken können. Er kam mit ihnen aus und fühlte sich geehrt. Manches, was auf ihren Fahnen stand, deckte sich mit seinen Ansichten. Er verachtete die Emigration, die er illoyal und lächerlich fand, und er weigerte sich, die Flucht jüdischer Freunde und Kollegen als Vertreibung anzusehen. Kerr wurde geradezu überschüttet mit Schmähungen. Hauptmann ließ sich hofieren (etwa von Rosenberg, Johst und Blunck), er schwankte, beschwor feierlich das »Schicksal«, redete zuweilen, wo er besser geschwiegen hätte, und schwieg, wo er hätte reden sollen. Er murrte auch mal, behielt seine Kritik freilich für sich. Mit der Tagespolitik hatte er wenig im Sinn. Stolz und erhaben wähnte er sich über den Dingen, und weil er für Naturmystik jederzeit zu haben war, beschrieb er seine Haltung 1935 mit den Zeilen: »Der alte Dichter stand auf hoher Küste, / die Sonne sank, es ging der Tag zur Rüste.«

Und dennoch: Hauptmann hat sein Menschenbild nicht verraten. Oswald Spenglers Ansicht, der Mensch sei ein Raubtier, nannte er 1933 eine »furchtbare Behauptung«. Sein Verhältnis zu den Juden changierte, die Rassenpolitik der Nazis sah er distanziert. Zwar hütete er sich vor allzu lautem Protest, als seiner jüdischen Schwiegertochter, einer Geigerin, 1935 die Ausübung ihres Berufs verboten wurde, andererseits war er couragiert genug, seinen verstorbenen jüdischen Verleger S. Fischer zu ehren und an der Beisetzung des einflussreichen, nun totgeschwiegenen Freundes Max Pinkus teilzunehmen, immerhin als einziger Trauergast nichtjüdischen Glaubens.

Auf der einen Seite ein Gespür für die Schrecken der Zeit, auf der anderen die Bewunderung für die Vaterlandsparolen, Halbheiten und Beschwichtigungsversuche. Die Nazis, kein Wunder, schmückten sich mit ihm, aber sie misstrauten ihm auch. Ganz geheuer war er ihnen nicht. Im November 1936 notierte Goebbels in sein Tagebuch: »Ein alter Mann, etwas selbstgefällig und eitel und vollkommen schimmerlos der neuen Zeit gegenüber. Mit dem kann man keine Lorbeeren mehr ernten. Aber es ist besser, er ist unser Freund als unser Feind.«

Faszinierend der weite Horizont des Buches. Peter Sprengel, der sich auf viele private Zeugnisse stützt und auch die Tagebücher Margarete Hauptmanns berücksichtigen kann, malt mit bestechender Gründlichkeit ein fein nuanciertes Bild jener Jahre. Sein Buch, wunderbar gerecht, ist keine Verteidigungs-, aber auch keine Anklageschrift. Souverän beschreibt es den Dichter mitsamt seinen Schwächen, seinen Irrtümern, seinem Versagen, mit den Leuten seiner Umgebung, den Schriftstellern, Schauspielern, Theater- und Filmleuten. Da ist der Wiesenstein, die burgähnliche Residenz im Riesengebirge, da sind die Getreuen, die Gäste, die Gauleiter, die Reisen, die Nöte, und da ist das Alterswerk. Im Zentrum, in inszenierter Goethe-Pose, der Dichter, noch einmal pomphaft gefeiert zu seinem achtzigsten Geburtstag 1942, der zuletzt, im Februar 1945, auf dem Weißen Hirsch entsetzt dem Untergang Dresdens zusehen musste. Drei Monate später, bei Kriegsende, war er ein geistig gebrochener Mann.

Die schöne Mär, Hauptmann habe sich weggeduckt in diesen zwölf Jahren, wird hier endgültig begraben. Sprengel entkräftet auch die letzten Legenden. »Wer das Weinen verlernt hat …»: Das Bekenntnis seiner Erschütterung über die Zerstörung Dresdens schrieb Hauptmann angeblich noch in derselben Nacht. Die Wahrheit ist: Die Klage entstand, als er längst wieder auf dem Wiesenstein war, und es war ein bestellter Text, der die Barbarei der Engländer und Amerikaner anklagen sollte. Hauptmann eröffnete ihn mit einem Satz, der beiden Nationen immerhin »gute Geister genug« zubilligte.

In den Zeitungen, die den Wortlaut in großer Aufmachung brachten, war der Satz allerdings nicht mehr zu finden.

Peter Sprengel: Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich. Propyläen Verlag. 368 S., geb., 24,90 €.

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