Tipp an den Wahlkampf: Lass es sein!
Das Phänomen Horst Schlämmer und endlich ein konkretes Programm: »konservativ, links, liberal«
Es ist anschwellender Wahlkampf. Also: Die Austauschbarkeit von Wahlkampfveranstaltungen wächst: Bastelstraßen für Senioren und Biomüll-Sammeln gegen Neonazis. Und über allem bunte Luftballons als letzter Ausdruck für hochfliegende Pläne.
Aber eine seltsame Hemmung durchzieht die Sphäre. Als trauten sich die landläufigen Grobiane der Kandidatenschaft noch nicht, ihre eigentliche Rolle in solchen Stimmenfangzeiten auszufüllen, nämlich: rhetorisch aus der Rolle zu fallen. Noch wirken alle unnatürlich gezügelt, als sei man im falschen Film. Der richtige Film läuft woanders und hat einen anderen Hauptdarsteller: Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling.
Der spielt den anderen vor, wie sinnlos, verbraucht, gestanzt, falsch, ausgeleiert, erschöpft der gesamte Politikbetrieb ist, und Schlämmers schmieriges, fettiges, schweißhändiges, ranschmeißendes, angekränkeltes, provinziges Gegenprogramm (»Isch kandidiere«, mehr ist nicht zu sagen, und mehr haben auch die anderen nicht zu sagen) schiebt sich von nun als herausgestreckte Zunge vor jeden Politiker-Auftritt.
Der Protagonist der filmischen Horst-Schlämmer-Partei (HSP) offenbart das Elend herumhumpelnder Politik: Die Welt birst vor Konflikten – aber die Politik hat kein wirkliches Thema, das jetzt die Leute hereinreißen würde in irgend eine Leidenschaft der Beteiligung. Nichts, was Macht werden will, hat noch wirkliche Kontur.
Und die Wählerschaft selber hat auch keine mehr. Stimmende Mehrheit ist inzwischen eine ziemlich homogene Menge unsicherer Kandidaten geworden, die erst kurz vor Toresschluss Wahlentscheidungen trifft, und die sich zerknirscht damit abzufinden scheint, dass man in politischer Meinungsfindung so bitter abhängig wurde von wechselnden Stimmungen, befeuert durch medial gesteuerte Emotionsschübe. Die Weltanschauungslager dämmern vor sich hin. Volksparteien? Eine Milieukern-Erinnerung. Protestparteien? Sternschnuppen des Trotzes, in der Regel schnell verglühend und dann allen wieder schnuppe. Alternativparteien? Eingebunden in die allgemeine Erkenntnis: Weil es in absehbarer Zeit kein wirkliches politisches Jenseits des Kapitalismus geben wird, ist es nur natürlich, dass alle aufeinander zugehen – und ineinander verschwinden.
Alle Parteien werben mit ewig gleichen Mitteln um einen Wähler, dem sie eine Richtung schmackhaft machen wollen, ohne ihn in dessen Grundhaltung zu stören: richtungslos bleiben zu wollen. Man buhlt also um jenen, der gegen Tiertötung ist, aber auch Steaks und gebratene Fische benötigt. Der gegen die Verpestung der Luft ebenso votiert wie gegen die Vergrößerung des Ozonlochs – aber der Tempo 100 auch nach härtesten Bestrafungen nicht automatisch einhalten wird. Allgemeine Aufweichung, keiner gibt sie zu, einzig Schlämmer gibt die komplexe Richtung an, er ist »konservativ, links, liberal«. Konkreter geht es wahrlich nicht, man weiß, woran man ist. Fast zwanzig Prozent der Deutschen würden ihm ihre Stimme geben.
Die Schlämmer-Jünger sind möglicherweise jene Schutzraumbedürftige, die von den Parteien mehr und mehr links oder rechts liegengelassen werden. Weil diese Parteien in der Zeit schrumpfender Lager und Großkollektive mit anderem beschäftigt sind: mit Flexibilitätstraining, mit Milieuverzicht, mit Fließeleganz. Um beweglicher zu werden in zivilgesellschaftlicher Freiheit. Um offen zu sein für noch unbekannte Lösungen der Modernisierungskrise. Um biegsam zu bleiben für jede Richtung, in welcher ungeahnte Koalitionen und also machtbeteiligte Überlebensformen möglich sind.
»Noch gibt es den komplett frei flottierenden Wählermarkt nicht. Aber zugegeben, das deutet sich als zukünftige Realität schon mächtig an.« Schreibt der Parteienforscher Franz Walter und verweist auf das, was dem Milieu, als dem eigentlichen Bindemittel von Parteien, folgen wird: »neue Vernetzungen, neue Kontaktkreise, nur nicht mehr so großflächig und lebenslang angelegt wie einst, sondern beliebig kombinierbar, schnell kündbar, also: leicht ersetzbar.«
Vielleicht ist Schlämmer eine Möglichkeit, nach oben zu schauen und dabei zugleich herablassend bleiben zu dürfen. Das gehört zur Politik, nicht erst, seit sie sich in der Mediengesellschaft verdingen muss. Jeder Politiker baut auf unser Bedürfnis, jemanden verehren zu wollen. Wer nun selbstbewusst und mündig meint, dieses Bedürfnis nicht zu haben, der sollte nicht all zu sehr von sich auf andere Menschen schließen: Die Geschichte der Politik, ob ihr Generalsekretäre oder andere Diktatoren vorstanden, ist eine Geschichte des pervers heftigen Jubels, der hinterher allen Beteiligten immer peinlich war. Bis irgend einem Neuen erneut zugejubelt wurde. Wir wollen verehren. Man spricht gern von Charakteren und meint Leute wie Brandt, Wehner, Strauß. Oder Usain Bolt oder Horst Schlämmer. Leute, die Autogrammwünsche auslösen.
Das demokratische Wählerverhalten in der Nähe einer Fan-Psyche – das hat, genau besehen, etwas Peinliches. Wir spüren das, können aber nicht aus unserer Haut, jemanden gut finden zu wollen, ohne nun gleich ein Partei-Wahlprogramm lesen zu müssen. Heute kann man kaum eine der exponierten Politgrößen noch gut finden, aber weil man gut finden möchte und gleichzeitig dem Erstarrten und Verbrauchten, dem drohend Gesetzmäßigen und pressend Geordneten ein Gegengewicht wünscht (das nichts kostet außer einer Kinokarte), kam Horst Schlämmer in die Welt, und das zur rechten Zeit.
»Chance 2000« war der Parteigründungsversuch von Christoph Schlingensief, an den man sich jetzt ein wenig erinnert fühlt. Schlingensief 2000 im ND-Interview: »Ich verarsche niemanden. Denn: Gibt es eine größere Verarsche als Millionen Arbeitslose? Wer ›Chance 2000‹ als Spaßpartei bezeichnet, sieht was falsch: Die richtigen Spaßparteien sitzen im Bundestag. Kohl ist ja schon wie Gott: Den fragt auch keiner mehr, warum die Sterne explodieren. Millionen Menschen werden nicht mehr gebraucht, deshalb bestehe ich mit meinem Projekt darauf, dass der Mensch ohne jeden Politik-Einmischungs-Krampf sagt: Ich! Mich gibt es noch! Nicht Gruppenbildung, sondern Generalmobilisierung jedes Einzelnen!«
Ich, sagte Schlingensief. Schlämmer sagt: Isch. Der Aktionskünstler zielte noch auf einen lebbaren Sinn, auf ein Bewusstsein zwar ohne parteipolitische Bindung, aber doch mit klarem Auftrag Rilkescher Prägung: »Du musst dein Leben ändern.« Der Entertainer Kerkeling hat Botschaften jenseits aller Appelle zur eigenen Aktivität. Macht kaputt, was euch kaputt macht? Vorbei. Lacht euch kaputt, das reicht.
Die Unappetitlichkeit des Grevenbroichers ist angenehmer als die Geschmack-Losigkeit des üblichen Polit-Personals. Schlämmer ist als Fiktion absolut authentisch, wo hingegen der Politprofi, je lebendiger er sein möchte, nur stark und stärker in die fade Abstraktion eines müde und brüchig gewordenen Musters abgleitet. Politiker wie Popstars, das wär’s, und an Popstars liefert man sich aus.
Peter Sodann, der gegen Horst Köhler antrat, war kein Popstar, aber ein »Tatort«-Kommissar, das ist ein Wesen ganz in der Nähe, und nicht umsonst gab es unter denen, die ihn gern als Präsidenten gesehen hätten, eine gefühlte Verwandtschaft zwischen Schauspieler und Rolle namens Ehrlicher. Ein Parteiprogramm dies, dem längst die Partei fehlt. Einer aber kam, der die wichtigste Voraussetzung mitbrachte: Er war einer von uns. Ackermann verhaften! Toll. Schlämmer sagt das auch, nur ganz anders. Es gibt tausend Arten, eine Komödie zu spielen.
Manchmal sehe ich das Gesicht von Horst Köhler, und er tut mir leid. Er möchte Sodann sein, ohne die plebejische Härte; er möchte Schlämmer sein, ohne die Schnapppatmung und diese Second-Hand-Kultur. Köhler repräsentiert den Wunsch nach Volksnähe, obwohl man beim IWF war. Das ist auf seine Weise auch ein Versuch, aus sich selbst eine unwirkliche Figur zu machen, die ganz real wirken soll. Köhler wirkt daher immer so rührend komisch, weil er an seiner Sehnsucht scheitert.
Diesem Schlämmer liefern wir uns gern und ein wenig verschämt aus, aber das können wir ohne Ehr- und Vernunftverlust tun, weil er in gleichem Maß, wie er sich präsentiert, die Satire auf diese Präsentation ist. Wir lassen uns von ihm fangen und fühlen uns zugleich als Teil jenes Widerstandes gegen die politlandschaftliche Öde – den es freilich real gar nicht gibt. Man hat die Welt verändert, indem man im Kabarett zu den bösen Witzen applaudiert – die friedlichste aller Revolutionen.
Ach, das wollten wir schon immer: uns waschen, ohne nass zu werden; uns mit Politik beschäftigen, ohne uns damit wirklich befassen zu müssen; keinen Wahlkampf erleben, dafür eine sehr gute Unterhaltungssendung. Eine seltsame Freiheit ist da ausgebrochen, und keiner fragt: Wer fängt sie wieder ein ...
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